30.1.1871 | geboren in Preßburg/Ungarn (heute Bratislava/Slowakei) |
1892-1894 | Studium an der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin |
1895 | Promotion an der Universität Bern |
1895-1896 | Aufenthalt in Fogaras/Ungarn (heute Fogarasch/Rumänien) Subrabbiner in Totis/Ungarn (heute Tata/Ungarn) Aufenthalt in Buczacz/Galizien (heute Butschatsch/Ukraine) |
1896-1905 | Rabbiner für Tirol und Vorarlberg in Hohenems/Vorarlberg |
1905-1907 | Rabbiner für Südtirol in Meran/Tirol |
1907 | Amtsantritt als Bezirksrabbiner in Göppingen |
1915-1918 | Armeerabbiner bei der Bugarmee in Brest-Litowsk/Russisches Reich (heute Brest/Weißrussland) |
26.2.1937 | gestorben in Göppingen |
Landkarte mit den Lebenssationen Dr. Aron Tänzers |
1871-1892
Kindheit und Jugend
Aron Tänzer kam am 30. Januar 1871 im ungarischen Preßburg zur Welt. Sein Vater war Rabbiner, die Mutter arbeitete als Weißnäherin für die Preßburger Judenschaft.
An seinem Geburtsort besuchte Aron Tänzer die Volks- und Mittelschule und von 1885 an für fünf Jahre die Rabbinatshochschule.
Die Judengasse in Preßburg, fotografiert um 1890. |
In der Jüdischen Schule am Niklo'bergel, unterhalb der Burg, drückte Aron Tänzer die Schulbank. Die Inschrift am Haus lautet "Grundlagen der Tora". Aufnahme um 1890. |
Schon das Kind umwehte der Ruf eines "Wunderknaben". In der Schar seiner Kameraden fiel Aron Tänzer durch seine Intelligenz und große rednerische Begabung auf.
Die Stadt Preßburg war im 19. Jahrhundert ein Zentrum jüdischer Kultur im Osten und eine Hochburg der Erforschung und Lehre jüdischer Theologie. Das geistig-kulturelle Klima in der Stadt, das Zusammenleben verschiedener konfessioneller und völkischer Gruppen und das intensive Erleben der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft prägte den jungen Aron Tänzer. In diesen Erfahrungen wurzeln sein nie nachlassender Optimismus und Humanismus.
Aron Tänzer als Fünfzehnjähriger. |
Am Eingang zur Preßburger Judengasse steht die Synagoge. Dahinter schaut der Turm der Kathedrale St. Martin hervor. Aufnahme um 1890. |
1892-1895
Studienjahre
Im Alter von 21 Jahren immatrikulierte sich Aron Tänzer an der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Er studierte Philosophie, Germanistik und semitische Philologie. Wie viele seiner Glaubensbrüder strebte er eine umfassende jüdisch-abendländische Bildung an.
1894 wechselte Tänzer an die Universität Bern, um zu promovieren. Seine Doktorarbeit beschäftigte sich mit dem religionsphilosophischen System von Josef Albo (1381-1445).
Im Sommer 1895 bestand Aron Tänzer mit guter Note das Examen.
Der Philosoph Prof. Dr. Ludwig Stein (1859-1930) |
In Bern wohnte Aron Tänzer im Haus Kramgasse 10. |
1895-1896
Auf der Suche nach einer festen Anstellung
Mit dem Doktorexamen in der Tasche bemühte sich Aron Tänzer um eine Anstellung als Rabbiner. Das hierfür notwendige Diplom erhielt er in der Gemeinde Obornik in der damaligen preußischen Provinz Posen am 20. August 1895 ausgehändigt.
Die Arbeitssuche führte ihn zunächst nach Fogaras in Siebenbürgen. 1896 hielt sich Tänzer im ungarischen Totis auf, wo er am 2. Juni Eleonore Rosa Handler geheiratet hat. Bei seinem Schwiegervater, dem Rabbiner Mark Handler, fand er eine Anstellung als Subrabbiner.
Eleonore Rosa Handler heiratete am 2. Juni 1896 Aron Tänzer. |
Die ehemalige Synagoge in Totis. Aufnahme 1990. |
Im Oktober desselben Jahres lebte Tänzer in Buczacz in Galizien, wo er das Heimatrecht und damit die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hat. Dies geschah wohl bereits im Hinblick auf eine Bewerbung nach Hohenems.
Heimatschein, ausgestellt von der Stadtgemeinde Buczacz am 15. Oktober 1896 für Dr. Aron Tänzer.
1896-1905
Rabbiner für Tirol und Vorarlberg
Im Oktober 1896 bewarb sich Aron Tänzer mit Erfolg auf die freie Rabbinerstelle im österreichischen Hohenems bei Bregenz. Zur Israelitischen Kultusgemeinde Hohenems gehörten auch die in den anderen Gemeinden Vorarlbergs und in Tirol lebenden Juden.
In Hohenems selbst lebten bei Tänzers Amtsantritt nur noch 100 Juden. Mit der überall zu beobachtenden Landflucht hatte die 1617 gegründete Israelitengemeinde viele Glaubensgenossen verloren.
Hier entstand auch das große Werk "Die Geschichte der Juden von Hohenems", welches 1905 herauskam.
Israelitengasse in Hohenems um 1900. Im zweiten Haus rechts wohnte die Familie Tänzer. |
Rabbinatshaus in Hohenems. Aufnahme um 1900. |
Synagoge in Hohenems, erbaut 1772. Aufnahme um 1900. |
1905-1907
Ein kurzes Zwischenspiel
1905 verließ Tänzer Hohenems. Er folgte der Einladung aus Meran, die dort neu geschaffene Stelle eines Bezirksrabbiners zu übernehmen.
Über die Zulässigkeit der damit vollzogenen Ablösung der Tiroler Juden von der Hohenemser Kultusgemeinde entstand ein heftiger Streit, an dessen Ende die Unrechtmäßigkeit der Trennung festgestellt worden ist. Nachdem in Hohenems wieder ein Rabbiner angestellt wurde, blieb Tänzers Stellung in Meran nicht länger haltbar.
Die Einweihung der Meraner |
Die Meraner Synagoge in ihrem heutigen Zustand. |
1907-1937
Dreißig schaffensreiche und bewegte Jahre
Angesichts seiner misslichen Lage in Meran suchte Tänzer die berufliche Veränderung. Er bewarb sich auf die ausgeschriebene Rabbinerstelle in Göppingen, die ihm am 1. September 1907 übertragen worden ist. Mit der Anstellung war der Eintritt in das württembergische Staatsbürgerrecht verbunden.
Rabbiner Tänzer bei seinem Amtsantritt in Göppingen im Jahr 1907.
Aron Tänzer zog mit seiner Familie in das Haus neben der Synagoge.
Die Göppinger Synagoge wurde 1881 eingeweiht.
Die Israelitische Kirchengemeinde hatte das Gebäude kurz zuvor erworben, um darin Wohnungen für den Rabbiner und Vorsänger einzurichten und die Gemeindeverwaltung unterzubringen.
Das Rabbinatshaus in Göppingen an der Freihofstraße.
Tänzers Ehefrau Eleonore Rosa verstarb 1912. Ein Jahr später heiratete er ein zweites Mal.
Hochzeitsanzeige in der Göppinger Zeitung vom 19. August 1913.
In Göppingen stellte Aron Tänzer seine Kräfte nicht nur in den Dienst der jüdischen Gemeinde, sondern setzte sich - über konfessionelle Grenzen hinweg - für kulturelle und soziale Ziele ein.
Beeinflusst von der 1900 einsetzenden Volksbildungsbewegung bildete sich in Göppingen ein "Komitee zur Bekämpfung der Schmutz- und Schundliteratur". In dieser Initiativgruppe ist Tänzer der Vordenker. Sein Ziel ist die Einrichtung einer öffentlichen Leihbibliothek.
Von dem Vortragsabend "Volksbildung und Volksvergiftung" ging der entscheidende Anstoß zur Gründung einer öffentlichen Leihbibliothek aus. Anzeige in der Göppinger Zeitung vom 6. April 1910. |
Mit einem Vortrag über "Volksbildung und Volksvergiftung" im Jahr 1910 trug Dr. Tänzer die Bibliotheksidee in die Öffentlichkeit. Bereits am Ende der Veranstaltung konnte er erste Buch- und Geldspenden entgegennehmen.
Aufruf in der Göppinger Tageszeitung Hohenstaufen zu Buchspenden für die Leihbibliothek, Ausgabe vom 29. November 1913.
In seiner Wohnung ordnete und verzeichnete Dr. Tänzer die Bücher.
Arbeitszimmer Dr. Aron Tänzers im Rabbinerhaus in der Freihofstraße 11, fotografiert um 1937. Auf dem Bücherregal steht die Büste von Moritz Lazarus (1824-1909), seines hoch verehrten Lehrers, dessen Nachlass ihm zur Pflege übergeben worden war.
Im Juli 1911 übergab er der Stadt eine Bibliothek mit 1000 Bänden. Weil die Raumfrage schwierig zu lösen war, konnte die Städtische Leihbücherei erst ein Jahr später eröffnet werden. Die städtische Einrichtung betreute Tänzer fast zwanzig Jahre ehrenamtlich.
1984, im 75. Jahr des Bestehens der Göppinger Stadtbibliothek, wurde nach einem Beschluss des Göppinger Stadtrats eine Gedenktafel als Zeichen des Dankes und zur steten Erinnerung an die Verdienste Dr. Aron Tänzers in der Stadtbücherei im Adelberger Kornhaus angebracht.
Die Bronzetafel schuf der Künstler Hans Nübold aus Adelberg, Kreis Göppingen.
Bei Veranstaltungen des 1919 in Göppingen gegründeten Volksbildungsvereins und des 1921 gegründeten Vereins für Kunst und Wissenschaft hielt Dr. Tänzer eine Vielzahl von Vorträgen. Beide Vereine schlossen sich 1925 zusammen.
Als exzellenter Kenner der deutschen Literatur und Geistesgeschichte sprach Dr. Aron Tänzer über Goethes "Faust", Nietsches "Also sprach Zarathustra" oder Madáchs "Die Tragödie des Menschen". Diese Vortragsreihen erstreckten sich jeweils über zehn Abende und fanden große Resonanz. Manchmal kamen über 150 Zuhörer zu einer Abendveranstaltung.
1928 setzte beim Göppinger Verein für Kunst und Wissenschaft ein Umdenken bei den Bildungsinhalten und -methoden ein. Die Arbeiterbildung und das Prinzip der Arbeitsgemeinschaften mit dem Ziel der aktiven Beteiligung des Publikums rückten jetzt in den Vordergrund. In diesem neuen Konzept geriet Dr. Tänzer mit seinem elitären Bildungsbegriff und universitären Vorlesungsstil ins Abseits.
Rabbiner Dr. Aron Tänzer hielt im Verein für Kunst und Wissenschaft zahlreiche Vorträge über Philosophie und Weltanschauungsfragen. Vorschau in der Göppinger Zeitung vom Oktober 1926. |
Ex libris von Dr. Tänzer mit dem siebenarmigen Leuchter, einem Symbol des Judentums. |
Dr. Tänzers Interesse galt vor allem der Geschichte der Juden. Über alle seine Wirkungsorte hat er fundierte Bücher geschrieben. Als Wissenschaftler beschäftigte sich Dr. Tänzer ganz im Sinne seines Lehrers, des Völkerpsychologen Moritz Lazarus (1824-1909), mit den Eigenheiten und Denkweisen des jüdischen Volkes.
Als Feldrabbiner schrieb Dr. Tänzer verschiedene Abhandlungen über seine Einsatzorte im Osten. Die Schrift über die Juden in Brest-Litowsk widmete er Prinz Leopold von Bayern. |
Nietzsches Buch "Also sprach Zarathustra", von Dr. Aron Tänzer für seine Vortragsreihe mit zahlreichen Erläuterungen versehen. |
Dr. Tänzer in seinem Arbeitszimmer |
Dr. Tänzer war ständiger Mitarbeiter verschiedener in- und ausländischer Zeitschriften. Für das Israelitische Familienblatt und die Allgemeine Zeitung des Judentums schrieb er regelmäßig Artikel. Von 1910 bis 1914 war er Herausgeber der Straßburger Israelitischen Wochenschrift.
Hätten sich Tänzers Jugendträume erfüllt, dann wäre er Schauspieler geworden. Seiner frühen Liebe zum Theater blieb er zeitlebens treu und verfasste sogar drei Bühnenstücke. Ein viertes Werk, "Die Tragödie der Juden", blieb unvollendet.
Zum 150. Geburtstag der ehemaligen Israelitischen Gemeinde Jebenhausen und zum 60. Geburtstag der Tochtergemeinde Göppingen im Jahr 1927 veröffentlichte Dr. Tänzer die umfassende Heimatgeschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen. 1988, zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Göppinger Synagoge wurde das Geschichtsbuch von der Stadt Göppingen neu herausgegeben und im Beisein von Dr. Tänzers Sohn Erwin vorgestellt.
Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen in der Ausgabe von 1927. |
1915-1918
"Mann des Friedens im Gewande des Krieges"
Gleich nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Dr. Aron Tänzer am 1. September 1914 freiwillig als Armeerabbiner zum Einsatz im Feld. Seinem Ansuchen konnte zunächst aus organisatorischen Gründen der Militärseelsorge nicht entsprochen werden. Bis er dann im August 1915 endlich ausrücken durfte, machte er sich als deutscher Patriot an der "Heimatfront" nützlich. Täglich hielt er einen Gottesdienst mit Kriegsgebeten in deutscher und hebräischer Sprache ab, organisierte Sammlungen unter den jüdischen und christlichen Bürgern und gab als Vertretungslehrer an der Mädchenrealschule Unterricht.
Drei Jahre, bis zum 19. November 1918, diente Dr. Tänzer als Armeerabbiner an der Ostfront. Er war die meiste Zeit in Brest-Litowsk und Pinsk stationiert. "Als Mann des Friedens im Gewande des Krieges", wie er sich selbst einmal bezeichnet hat, betreute er seelsorgerisch die Soldaten, half im Lazarett und richtete für die notleidende Bevölkerung Volksküchen ein.
Die Rot-Kreuz-Armbinde und der Davidstern weisen auf die friedlichen Aufgaben des Feldrabbiners hin. |
Als Feldrabbiner richtete Dr. Tänzer Volksküchen für die notleidende Bevölkerung ein.
Für seinen Einsatz im Felde wurde Dr. Aron Tänzer vielfach geehrt und mit Orden ausgezeichnet.
Orden, mit denen Dr. Tänzer ausgezeichnet wurde. |
Dr. Tänzer an seinem 60. Geburtstag im Jahr 1931.
Dr. Tänzer starb am 26. Februar 1937. Von seinem Tod wurde öffentlich nicht Notiz genommen. In der Zeitung erschien kein Nachruf und keine Todesanzeige.
Ein gutes Jahr vor seinem Ableben hatte Tänzer sein Testament gemacht. Darin legte er auch den Ablauf seines Begräbnisses fest. Er wollte von einem Berufskollegen beerdigt werden. Und es war sein Wunsch, dass "keinerlei Dankrede, Nachruf oder dergleichen gehalten, auch keinerlei deutsches Gebet" gesprochen werde.
Unter Punkt 10 seines Testaments legte er die Inschrift für seinen Grabstein fest.
"Meine Grabinschrift soll lauten: Dr. phil. Aron Tänzer, Rabbiner in Hohenems, Göppingen, Feldrabbiner im Weltkriege 1915-1918, Ritter hoher Orden, Verfasser wissenschaftlicher Werke, geb. 30.1.1871, gest. ... Dann Raum lassen für die Grabinschrift für meine zweite Frau."
Das Familiengrab Tänzer auf der Israelitischen Abteilung des Göppinger Friedhofs. Die von Dr. Tänzer für seine Person festgelegte Inschrift erinnert an seine Leistungen und Verdienste, welche die Nazis gerne vergessen machen wollten.
Das Schicksal der Witwe Berta Tänzer und ihrer Kinder
Dr. Tänzer hinterließ eine Frau und sechs erwachsene Kinder.
Die Witwe Tänzer verzog Ende 1937 in das ehemalige Landasyl "Wilhelmsruhe" in Sontheim bei Heilbronn. Hier fanden in der Zeit des Nationalsozialismus ältere Jüdinnen und Juden aus dem südwestdeutschen Raum Unterkunft. Von Sontheim wurde die Witwe Tänzer am 23. März 1942 nach Haigerloch umgesiedelt. Wenig später wurde sie in das KZ Theresienstadt deportiert. Dort ist sie am 25. September 1943 ums Leben gekommen.
Das jüdische Altersheim in Sontheim.
Die schon erwachsenen Kinder lebten beim Tod des Vaters nicht mehr im elterlichen Haus. Fritz war Kaufmann in Tel Aviv, Irene lebte in Budapest, Hugo arbeitete als Kaufmann in Wien, Ilse wohnte in London. Paul war Rechtsanwalt in Stuttgart und Erwin studierte noch in Berlin.
Berta Tänzer im Alter. | Im jüdischen Altersheim in Sontheim erhält Frau Tänzer Besuch von ihrer Tochter Irene. Aufnahme von 1940. |