Vorwort

In Grafeneck, bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb gelegen, erinnert eine Gedenkstätte daran, daß die Nationalsozialisten zur Durchführung des "Euthanasie"- Programms 1939 das Behindertenheim der Samariterstiftung beschlagnahmten und auf dem Anwesen eine Tötungsanstalt für behinderte und als unheilbar krank geltende Menschen einrichteten. 1940 wurden in Grafeneck über 10 000 Menschen ermordet. Die Opfer kamen aus badischen, bayerischen und württembergischen Heil- und Pflegeanstalten. Unter ihnen waren auch Pfleglinge der Privatheilanstalt Christophsbad in Göppingen, die über die Verlegung in eine staatliche Heilanstalt nach Grafeneck und auch nach Hadamar gebracht wurden. Die Leitung des Christophbads begab sich dabei nicht in die Rolle einer willfährigen Helferin. Im Gegenteil, der Aufforderung des Reichsministers des Innern, die Anstaltsinsassen listenmäßig in Meldebogen zu erfassen, kam man in Göppingen nicht nach. Die Auswahl der staatlichen Patienten im Christophsbad, die ab April 1940 Göppingen verlassen mußten, blieb Dr. Otto Mauthe vom Württembergischen Innenministerium selbst vorbehalten. Die Verweigerungshaltung des Christophsbads konnte aber nicht verhindern, daß 297 Patienten abtransportiert und 168 von ihnen in Grafeneck und Hadamar in den Jahren 1940 und 1941 getötet wurden.

Thomas Stöckle hat 1994 erstmals seine Forschungsergebnisse über das "Euthanasie"-Programm und dessen Auswirkungen auf die Heilanstalt Christophsbad mit einem Beitrag in dem stadtgeschichtlichen Lesebuch "Göppingen unterm Hakenkreuz" veröffentlicht. Als Historiker und Mitglied des Arbeitskreises Gedenkstätte Grafeneck e.V., der die Namen der Opfer der "Euthanasie" in Grafeneck für ein Gedenkbuch zusammenträgt und auf vielfältige Weise die Erinnerung an das Schicksal der auf der Alb getöteten Behinderten und psychisch Kranken wachhält, konnte Thomas Stöckle inzwischen weitere historische Quellen auswerten. Die Ergebnisse wurden in einem Vortragsabend zum Holocaust-Gedenktag 1998 vorgestellt, zu dem die Städtische Volkshochschule und das Jüdische Museum Göppingen gemeinsam eingeladen hatten. Diese Schrift gibt nun den Vortrag in erweiterter Form wieder. Die Anklagen des württembergischen Landesbischofs Dr. Theophil Wurm und des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, gegen die "Euthanasie"-Aktion sind als wichtige zeitgeschichtliche Dokumente im Anhang abgedruckt. Aufsatz und Zeitdokumente machen diese Broschüre auch zu einer geeigneten Grundlage für den Schulunterricht. Wir wünschen ihr eine zahlreiche Leserschaft.
Jüdisches Museum Göppingen

Heilanstalt Christophsbad in den 1930er Jahren

Die Heilanstalt Christophsbad in den 1930er Jahren. Im April 1940, vor der ersten Verlegung von Kranken in staatliche Anstalten, betreute das Christophsbad 514 Kranke, darunter 377 Staatspfleglinge.

Verlegt nach Grafeneck und Hadamar

Am 19. September 1940 richtete das Württembergische Innenministerium in Stuttgart folgenden Erlaß an die staatlichen Heilanstalten Weinsberg und Weissenau: "Von der Heilanstalt Göppingen wurden von den Kranken, die nach Weinsberg und Weissenau verlegt wurden, noch keine Meldebogen ausgefüllt, was unverzüglich nachzuholen wäre. Die Meldebogen sind mir bis spätestens 1. Oktober 1940 zur Weitergabe an den Herrn Reichsminister des Innern vorzulegen. Ich verweise auf meine mündliche Besprechung dort. gez. Dr. Mauthe."1 Was hatte es mit diesem Brief auf sich? Warum waren Patienten des Christophsbades Göppingen nach Weinsberg und Weissenau verlegt worden? Warum sollten für jeden einzelnen dieser Patienten Meldebogen ausgefüllt werden? Wozu dieser bürokratische Aufwand, könnte man fragen.

Die Jahre 1939 und 1940 hatten wahrlich einschneidende Ereignisse für Deutschland und Europa gebracht. Die Entfesselung des Weltkrieges durch den Überfall auf Polen, die Besetzung Dänemarks und Norwegens ebenso wie die militärische Offensive im Westen in den Monaten Mai und Juni des Jahres 1940 fielen in diese Zeit. Just in dieser Situation mahnte der zweite Mann des württembergischen Gesundheitsdienstes (Geschäftsteil X des Württembergischen Innenministeriums), Dr. Otto Mauthe, Sachbearbeiter für das Irrenwesen, die Ausfüllung von Einzelfragebogen von Göppinger Anstaltspatienten "zur Weitergabe an den Herrn Reichsminister des Innern" an.

Was war der Zweck dieser Erfassung? Die Beantwortung all dieser Fragen führt ins Zentrum nationalsozialistischer Gesundheits-, Sozial- und Rassenpolitik. 2 Ihr Ziel war die Verwirklichung eines umfassenden Programmes zur "Reinigung des Volkskörpers". 1940/41 war hier bereits ein vorläufiger Gipfel erreicht, der über Zwangssterilisierung und Zwangsabtreibung zur "Ausmerze" und zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" führte. Eine unterstellte biologische und gesellschaftliche "Minderwertigkeit" prädestinierte gerade Anstaltspatienten in den Augen von Rassenhygienikern, Psychiatern, Medizinalbeamten und Ökonomen zu Opfern eines ,medizinischen' Massenmordes. Der Begriff, der diesen Vorgang verharmlosend, man könnte sagen euphemistisch umschreibt, heißt "Euthanasie" 3 oder, wie es in der Ermächtigung Hitlers vom Oktober 1939 ausgedrückt ist, "Gnadentod". Neben dem Holocaust, dem Mord an den europäischen Juden, steht dieses politische Großverbrechen, nämlich die kalkulierte Ermordung von hilfsbedürftigen und wehrlosen Anstaltspatienten, für das Ende aller Humanität im Nationalsozialismus. In nicht einmal zwei Jahren, zwischen Januar 1940 und August 1941, wurden auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches 70 273 Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten, psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, getötet. Dies geschah in sechs eigens zu diesem Zweck eingerichteten und mit Vergasungsanlagen und Krematorien ausgerüsteten Tötungsanstalten. 4 Von zwei der sechs Orte, von Grafeneck bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb und von Hadamar bei Limburg an der Lahn, wissen wir, daß dort Patienten aus Württemberg und Baden, damals noch getrennte Verwaltungseinheiten, ermordet wurden. Allein in Grafeneck waren es im Jahr 1940 über 10 500 Menschen; hierbei stammten knapp 4 000 aus württembergischen, 4 500 aus badischen und über 2 000 der Opfer aus bayerischen und nicht-süddeutschen Heil- und Pflegeanstalten. 5 Nach der Schließung Grafenecks im Dezember 1940 wurden über 500 weitere Patienten aus Württemberg und Baden gewaltsam in die hessische Anstalt Hadamar verbracht und dort im Verlauf des Jahres 1941 getötet.

Nicht verschont von dieser sogenannten "Euthanasie"-Aktion, die den Decknamen "Aktion T4" trug, blieb auch das Christophsbad Göppingen. In zuerst vier Krankentransporten wurden zwischen April und Oktober 1940 nachweislich 265 Patienten, in den Quellen ist meist von Pfleglingen oder schlicht von Kranken die Rede, 150 Frauen und 115 Männer, nach Weinsberg, Weissenau und Winnenden gebracht, allesamt staatliche württembergische Heilanstalten. 6 Diese Zahl entsprach ungefähr 50% des gesamten Krankenbestandes des Christophsbads. Auffallend war, daß die damaligen Erlasse des Württembergischen Innenministeriums, mit denen die Verlegungen angeordnet wurden, nur sogenannte Staatspfleglinge einbezogen, also Patienten, die auf öffentliche Kosten im Christophsbad untergebracht waren. 7 Die einzelnen Transporte der Jahre 1940 und 1941 verließen das Christophsbad an folgenden Tagen:

Die Zielorte, die staatlichen württembergischen Heil- und Pflegeanstalten, stellten für die Göppinger Patienten auf ihrem Weg in den Tod jedoch nur sogenannte Zwischen- oder Durchgangsstationen dar, was auch der eingangs zitierte Brief des Württembergischen Innenministeriums, der an die Heilanstalt Weissenau gerichtet war, verdeutlicht. Noch in den letzten beiden Monaten des Jahres 1940 wurden 144 Patienten des Christophsbades nach Grafeneck weiterverlegt und 137 dort getötet, die Akten des Tübinger Grafeneck-Prozesses sprechen von insgesamt sieben "Zurückgestellten", das heißt Menschen, die noch in der Vernichtungsanstalt von den Tötungen ausgenommen wurden. 9 Die Weiterverlegungen nach Grafeneck fanden statt am:

Weitere 32 Patienten aus Göppingen wurden im darauffolgenden Jahr 1941, wiederum über die Heilanstalten in Weissenau und Weinsberg, in die Vernichtungsanstalt Hadamar bei Limburg verbracht und 31 von ihnen getötet, so daß davon auszugehen ist, daß insgesamt 168 Patienten aus dem Christophsbad der "Aktion T4" zum Opfer fielen und somit vorsätzlich ermordet wurden.

In grau lackierten Bussen mit abgedunkelten Scheiben wurden die Patienten aus den Anstalten abgeholt. Die Aufnahme wurde 1940 heimlich vor der Anstalt Stetten im Remstal gemacht.

In dem Schuppen (auf dem Lageplan Nr. 2) auf dem Gelände des von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Behindertenheims der Samariterstiftung wurden die eingelieferten Patienten durch Kohlenmonoxyd-Gas getötet.

Vernichtungsanstalt Grafeneck

A:stacheldrahtbewehrter Zaun mit Verbotsschildern und Wachposten am Fuße des langgestreckten Höhenzuges
B:Einfahrt mit Schlagbaum
C: Tötungskomplex
1 Aufnahmebaracke
2 Vergasungsschuppen
3 Verbrennungsofen
4 Garage für Omnibusse
5 hoher Bretterzaun
D:Schloß mit Kommandantur und Standesamt

Lageplan der Vernichtungsanstalt Grafeneck, gezeichnet nach einem Plan in den Akten des Tübinger Grafeneck-Prozesses.

Vorgeschichte und Erklärungsversuche

Dieser ungeheuerliche Vorgang der Tötung von Anstaltspatienten besitzt eine lange Vorgeschichte. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden, ausgehend von sozialdarwinistischen Vorstellungen, Ideen der Rassenhygiene und der Erbgesundheitspflege (Eugenik) propagiert. Dem Staat wurde die Aufgabe zugewiesen, die natürliche positive Selektion bzw. Auslese zu steuern und zu verstärken. 10 Eine Radikalisierung erfuhren diese Vorstellungen während der Weimarer Republik durch den Vorwurf, daß Fürsorge und Sozialgesetzgebung diese natürliche Selektion blockierten, und sie gipfelte schließlich in dem perfiden Vorwurf, die Tüchtigen und Starken hätten während des Weltkrieges 1914 bis 1918 ihr Leben für den Staat geopfert und die deutsche Bevölkerung habe gehungert, während die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten ("Irrenhäuser") die notwendigen Nahrungsmittel aufgezehrt und potentielle Lazarettbetten blockiert hätten.

Hieraus entwickelten sich Forderungen, die Träger von angeblich "erblicher Minderwertigkeit" an der Fortpflanzung zu hindern. 11 Dies sollte zuerst über Zwangssterilisierungen gewährleistet werden, eskalierte dann aber im weiteren Verlauf in der Forderung nach der "Vernichtung lebensunwerten Lebens". 12 Hier deutet sich schon der argumentative Zusammenhang verschiedener Rechtfertigungsmuster an. Einerseits wurde die Rassenhygiene bemüht, deren erklärtes Ziel es war, den deutschen "Volkskörper" zu reinigen. "Nicht mehr der leidende Mensch stand im Zentrum psychiatrischen Handelns, sondern die überindividuelle Sozialstruktur: der Staat, die Nation, das Volk" - oder aber: die Rasse. Dieses Denken verdeutlicht auch den Zusammenhang von "Heilen und Vernichten" in der Zeit des Nationalsozialismus, denn die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" stand, ausgehend von den Grundannahmen der Rassenhygiene, für die Stärkung und Gesundung von "Volkskörper" und Rasse. "Heilen und Vernichten" stehen in diesem Denken nicht nur in einem untrennbaren Zusammenhang, sondern sie werden vielmehr identisch. Andererseits kommen zur gleichen Zeit andere Begründungen auf, welche die "Ausmerze lebensunwerten Lebens" zu legitimieren suchen. Es sind dies ökonomische und militärische Notwendigkeiten, die auch den unmittelbaren Anlaß für die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" darstellten. Der Ermordung von Anstaltspatienten in den Jahren 1940/41 in der "Aktion T4" lag somit im Kern eine utilitaristische, ökonomische und militärische, mit anderen Worten zweckrationale Vernunft zugrunde. So lag die ,Logik' der Planer bei der ,Beseitigung nutzloser Esser' in der Einsparung von Nahrungsmitteln, 13 der Entlastung der öffentlichen Finanzen, 14 der Freisetzung von Ärzten und Pflegepersonal, 15 der Umwandlung von Heil- und Pflegeanstalten in Militärlazarette 16 und der Möglichkeit zur Umstrukturierung der Anstaltspsychiatrie insgesamt - organisatorisch zur Verdrängung kirchlicher und privater Träger, inhaltlich zur intensiveren Betreuung therapiefähiger, d. h. arbeitsfähiger Anstaltspatienten. 17

Es gilt als sicher, daß bereits 1935 der Reichsärzteführer Gerhard Wagner auf dem Reichsparteitag in Nürnberg an Hitler herantrat, um von diesem eine Ermächtigung zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" zu erlangen. Hitler lehnte dieses Ansinnen mit der Begründung ab, "daß, wenn ein Krieg sein soll, er diese Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen werde", weil "die Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskranken" im Krieg möglich ist und, "wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen schaut ..., der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt". Ferner meinte Hitler, daß "Widerstände, die von kirchlicher Seite zu erwarten wären, in dem allgemeinen Kriegsgeschehen nicht diese Rolle spielen würden wie sonst" 18. Während des Nürnberger Ärzteprozesses machte Viktor Brack, einer der Hauptorganisatoren der "Aktion T4", folgende Aussage: "Letzten Grundes bezweckte Hitler .. . jene Leute auszumerzen, die in Irrenhäusern und ähnlichen Anstalten verwahrt und für das Reich von keinem irgendwelchen Nutzen mehr waren. Diese Leute wurden als nutzlose Esser angesehen, und Hitler war der Ansicht, daß durch die Vernichtung dieser sogenannten nutzlosen Esser die Möglichkeit gegeben wäre, weitere Ärzte, Pfleger, Pflegerinnen und anderes Personal, Krankenbetten und andere Einrichtungen für den Gebrauch der Wehrmacht freizumachen." 19

Die "Aktion T4"

Federführend bei der Planung, der Organisation und der Durchführung der "Aktion T4" war die Kanzlei des Führers der NSDAP unter ihrem Reichsleiter Philipp Bouhler. Sie war nach der Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch Hitler am 17. November 1934 gegründet worden. Als Parteidienststelle war sie zur Bearbeitung persönlich an Hitler gerichteter Eingaben geschaffen worden und entwickelte auf Betreiben Bouhlers einen umfangreichen Apparat, der seit 1938 aus fünf Hauptämtern bestand. 20 Da Hitler in seiner Eigenschaft als Reichskanzler eine gesetzliche Freigabe der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" ablehnte, war das auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegbeginns zurückdatierte Ermächtigungsschreiben, das von Hitler im Oktober 1939 unterzeichnet wurde, die einzige ,Rechtsgrundlage'. 21 Hierzu beauftragt wurde eine hauptsächlich außerhalb der Staatsbürokratie arbeitende parteiamtliche Stelle, die direkt Hitler unterstand, nämlich die Kanzlei des Führers.

Auf Privatpapier geschrieben und ohne den Ausweis der staatsrechtlichen Stellung Hitlers wurde die Ermächtigung nur einem kleinen ausgewählten Personenkreis vorgelegt. Reichsjustizminister Franz Gürtner, der die Einstellung der "Euthanasie"- Aktion gefordert hatte, bekam sie erst am 27. August 1940 zu Gesicht. 22 Die Führervollmacht lautete: "Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. gez.: Adolf Hitler." 23 Im folgenden wurden Oberdienstleiter Viktor Brack, Leiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers, und Dr. Hefelmann, Leiter des Amtes IIb, mit der weiteren Planung der "Euthanasie"-Aktion betraut. 24 Da die ,Aktion' als "Geheime Reichssache" eingestuft wurde und die Kanzlei des Führers nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden sollte, benutzten die Mitarbeiter der Kanzlei Decknamen. Ebenfalls aus diesem Grund wurden die beteiligten Stellen schrittweise aus der Kanzlei des Führers ausgelagert und ab April 1940 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin untergebracht. Ab diesem Zeitpunkt "wurde die Zentraldienststelle der ,Euthanasie-Aktion' mit ,T4' bezeichnet, die ,Euthanasie' selber ,Aktion T4' genannt" 25. Die Zentraldienststelle, der Historiker Götz Aly bezeichnet sie treffend als eine Tötungsbehörde, 26 agierte nach außen in vier verschiedenen Organisationen:
  1. Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG), zuständig für die Erfassung und Selektion der Opfer mit Hilfe von Fragebogen, bestehend aus einer Büroabteilung, die Gerhard Bohne, ab April 1941 Dietrich Allers unterstand, und einer medizinischen Abteilung unter Professor Dr. Werner Heyde. 27
  2. Gemeinnützige Stiftung für Anstaltpflege, die für die Finanzierung des Tötungsprogrammes sorgte. Sie trat als Arbeitgeber auf und war für die Arbeitsverträge und die Besoldung der Mitarbeiter zuständig, des weiteren oblagen ihr Kaufund Pachtverträge und das Beschaffungswesen, darunter das zur Tötung der Anstaltspatienten eingesetzte Kohlenmonoxyd (CO-Gas). 28
  3. Gemeinnützige Krankentransport-GmbH (GEKRAT), die für die Verlegung der Opfer, für ihre Habe und ihre Krankenakten sorgte und in jeder der Tötungsanstalten, so auch in Grafeneck und Hadamar, eine Transportstaffel, die grauen Omnibusse, unterhielt.
  4. Die im April 1941 eingerichtete Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten (ZVSt), 29 an die die Kostenträger - oftmals über den eigentlichen Todestag hinaus - die Pflegegelder zu überweisen hatten. 30

Zusammen bildeten diese vier Organisationen die Zentraldienststelle "T4". Die einzige Stelle auf Reichsebene, die direkt in die Tötungsaktion einbezogen wurde, war ein Teil der Medizinalverwaltung der Reichsinnenministeriums, die Unterabteilung Erb- und Rassenpflege (Abteilung IVb) in der Gesundheitsabteilung des Reichsministeriums des Inneren (RMdI) unter ihrem Sachbearbeiter für das Anstaltswesen, Ministerialrat Herbert Linden.

Das Christophsbad im Vorfeld der NS-"Euthanasie"

Chef des damaligen Ärzte- und Pflegepersonals 31 war der leitende Arzt des Christophsbads Dr. Fritz Glatzel, Jahrgang 1872. Er war bereits seit 1924 im Christophsbad tätig und übte die Leitungsfunktion bis Januar 1943 aus. Sein Stellvertreter war Dr. Karl John, Jahrgang 1887, seit 1928 Oberarzt. Die zweite Oberarztstelle hatte Dr. Hans-Jörg Weitbrecht inne, ein noch in stärkerem Maße als John wissenschaftlich ambitionierter Arzt, der später habilitierte und in der Nachkriegszeit eine Professur an der Universität Bonn innehatte. Daneben gab es an der Anstalt noch zwei Assistenzärzte. Eine dieser Stellen wurde allerdings, nachdem der Inhaber zur Wehrmacht eingezogen worden war, nicht mehr neu besetzt. Die zweite Stelle hatte weiterhin die Assistenzärztin Dr. A. Risse inne.

Das Pflegepersonal bestand 1939 aus drei Oberschwestern und 75 Pflegekräften. Deren Zusammensetzung unterlag, was in den Jahresberichten regelmäßig beklagt wurde, einer starken Fluktuation. Die reguläre Zahl von 90 Pflegekräften, 45 männlichen und 45 weiblichen, wurde bereits 1939 nicht mehr erreicht und sollte in den Folgejahren noch weiter sinken. 1940 betrug die Zahl der Pflegekräfte nur noch 49, 19 Pfleger und 30 Pflegerinnen.

Was die Beziehung der ärztlichen Leitung des Christophsbads zum NS-Staat und den von diesem eingeleiteten Maßnahmen angeht, so ist eine Einschätzung äußerst schwierig und muß einen vorläufigen Charakter tragen. Was die Ermordungen von Patienten im Rahmen der "Euthanasie"-Aktion T4 betrifft, so kann hierbei eine einheitlich ablehnende Haltung festgestellt werden. Eine andere Sprache sprechen die Quellen allerdings bei der Frage nach der Übernahme und der Rezeption rassenhygienischer, eventuell auch rassistischer und rassenantisemitischer Vorstellungen beispielsweise durch den stellvertretenden ärztlichen Leiter Dr. John.

Rassenhygiene

Ein interner Bericht des im Württembergischen Innenministeriums tätigen Obermedizinalrats Dr. Otto Mauthe vom 15. Juni 1938 an den Innenminister Dr. Jonathan Schmidt führt folgendes aus: "Betreff: Besichtigung der Heilanstalt Christophsbad in Göppingen .. . Der Kreisleiter, den ich, wie bereits erwähnt, fernmündlich gesprochen habe, hatte keinerlei Klagen oder Wünsche bezüglich der Anstalt vorzubringen, er betonte, daß er in politischer Beziehung mit der Anstalt sehr gut zusammenarbeite, vor allem, da der Oberarzt Dr. John als Kreisamtsleiter des Rassenpolitischen Amtes sehr rege tätig sei." 32 In dieser Funktion als Kreisamtsleiter des Rassenpolitischen Amtes, angesiedelt bei der Kreisleitung der NSDAP, hielt Dr. John auch eine Vielzahl von Vorträgen in Göppingen sowie in anderen Gemeinden der Umgebung, so z. B. zu den Themen "Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene" (Februar 1934), "Erbbiologische Grundlagen zum Sterilisierungsgesetz" (März 1934), "Rassenhygiene und Erbbiologie" (Januar 1936). Zu letzterem machte der Arzt dann gegenüber der Spruchkammer folgende Aussage: "In den folgenden Monaten habe ich diesen populärwissenschaftlich, keineswegs parteipolitisch aufgezogenen Vortrag auf Ersuchen der Kreisleitung bei verschiedenen Ortsgruppen des Kreises wiederholt, z. B. in Eislingen, Salach, Hohenstaufen, Uhingen, Reichenbach, Faurndau. Die genauen Daten sind mir nicht mehr erinnerlich." Weitere Vorträge Johns, gehalten im Volksbildungswerk Göppingen, waren überschrieben mit "Rassen und Rassenmischung im anthropologischen Sinn" (November 1937), "Erbgut verpflichtet!" (November 1937), "Alles Leben ist Kampf" (November 1937), "Erbkrankheiten und Auslese" (Januar 1938). 33 Nach eigenen Aussagen wurde Dr. John vom Göppinger Kreisleiter Baptist aufgefordert, die Leitung des Rassenpolitischen Amts zu übernehmen. Um persönlichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, John war ehemals Mitglied einer Freimauererloge, nahm er wohl die Kreisbeauftragten- Stelle an. In der öffentlichen Sitzung der Spruchkammer Göppingen vom 18. September 1947 gab John das Folgende zu Protokoll: "Durch diese Verhältnisse fühlte ich mich seelisch bedrängt, da die Diffamie und der Kampf gegen die Freimaurerlogen noch weiter ging. Und ich glaubte daher, wenn ich die Aufforderung des Kreisleiters ablehne, ich auch weiterhin behelligt würde. . . . Gegen die Sterilisation, die im Rahmen des Erbgesundheitsgesetztes gemacht wurde, war ich nicht, da dies eine Sache ist, die wissenschaftlich durchaus gerechtfertigt ist. Aber wie es später im Dritten Reich geschah, war es übertrieben." 34 John wurde, dies sei hier vorweggenommen, von der Spruchkammer schließlich als "entlastet" eingestuft.

Auch die lokale Presse berichtete über die Aktivitäten Dr. Johns, so beispielsweise die "Göppinger Zeitung" in der Ausgabe vom 23. Januar 1937 über einen Lichtbildervortrag Dr. Johns bei der Ortsgruppe der NSDAP Salach. Der "Die Rassenpolitik des dritten Reiches" betitelte Artikel hatte folgenden Wortlaut: "Da sieht man die Ideen des Liberalismus verwirklicht in prachtvollen Irrenhäusern und Gefängnissen, deren Erstellung und Betreuung ihrer Insassen Unsummen Geldes verschlangen, jene verrückte Idee von der Umweltbedingtheit der Rasse. Als ob ein Negerkind sich im hohen Norden zu einem blondschöpfigen Menschen entwickeln könnte! Diese falsche Idee aus dem Weg geräumt zu haben, ist einzig und allein der Verdienst des Nationalsozialismus. Wer diese idiotischen Gestalten - gewiß bedauernswerte Geschöpfe - sieht, versteht ohne weiteres die Maßnahmen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Wenn Juden und Neger in Bildstreifen auftauchen, begreift man die Nürnberger Gesetze." 35

Der folgende Auszug stammt aus der Göppinger Lokalzeitung "Der Hohenstaufen - Göppinger Zeitung" vom 7. Juni 1939. Der Artikel trug die Schlagzeile "Die Gesinnung ist entscheidend! Rassenpolitischer Vortrag in einer Versammlung der Kinderreichen." Der Berichterstatter schrieb darüber: "In einer Versammlung der Kinderreichen (RDK) des Kreises Göppingen im Kreisschulungssaal hielt der Kreisbeauftragte des RPA, Dr. John, einen Vortrag über das Thema "Rassenpolitik im Dritten Reich", dem wir folgendes entnehmen: Unsere Rassenpolitik beruht auf der rassischen Weltanschauung, die endgültig gebrochen hat mit der sogenannten ,Gleichheitslehre' und dafür die wissenschaftlich begründete Erkenntnis setzte: Vererbung und Auslese entscheiden über das Schicksal des einzelnen sowie des ganzen Volkes! Ziel unserer Rassenpolitik ist, den Bestand des Volkes zahlenmäßig zu erhalten bzw. noch zu vergrößern, dabei aber die Fremdrassigen auszuschalten und die Erbuntüchtigen wenigstens an der Fortpflanzung zu verhindern. . .. Die Ausmerzung der Erbuntüchtigen wird durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gewährleistet. Dem Kampf gegen gefährliche Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrecher dient das Gesetz vom 24. 11. 1933. Dem weiteren Eindringen Fremdrassiger ins deutsche Volk wurde durch die Nürnberger Gesetze ein Riegel vorgeschoben." 36

Während die beide Presseartikel nur sehr vorsichtig zu bewerten sind, auch weil Dr. John in der Nachkriegszeit deren Wahrheitsgehalt bestritt, stammt das im folgenden zitierte Schreiben aus der Feder Johns selbst. Es handelt sich um einen Brief, den er in seiner Funktion als Kreisbeauftragter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP-Kreisleitung Göppingen verfaßt hatte und als Datum den 30. April 1941 trägt: "Betr.: Rassenmischung zwischen deutschen Volksgenossen und Angehörigen anderer innereuropäischen Rassengemische. Die Notwendigkeit der rassischen Selbstbehauptung Deutschlands und die Ablehnung von Rassenmischung auch innerhalb des Europäischen Völkerkreises ist unbestrittene rassenpolitische Forderung und muß drum auch von allen Rassen und von verantwortungsbewußten deutschen Volksgenossen beachtet werden. Ich sehe mich veranlaßt, auf diese Tatsache hinzuweisen, da ich die Beobachtung gemacht habe, daß in letzter Zeit, seit bei dem Sauerbrunnenbetrieb der Firma Dr. Landerer Söhne etwa 20 junge aus dem Elsaß zugereisten Arbeiterinnen, die ursprünglich polnischer Abstammung sind, als Aushilfskräfte eingestellt wurden, Soldaten unserer Göppinger Garnison diesen fremdvölkischen weiblichen Rassenangehörigen nachlaufen und sich mit diesen Mädchen in den Abendstunden und am Sonntag herumtreiben. Es dürfte meines Erachtens angezeigt sein, wenn von Seiten der NSDAP-Kreisleitung die Befehlsstellen der Göppinger Truppenteile darauf aufmerksam gemacht würden, daß der Umgang der Soldaten mit diesen fremdvölkischen Mädchen rassisch unerwünscht ist. Heil Hitler! gez. Dr. John, Kreisbeauftragter der RPA." 37

Zwangssterilisierungen in den Jahren 1939 bis 1941

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden in Deutschland etwa 360 000 Männer und Frauen zwangsweise einer Sterilisation unterzogen, die Mehrzahl wurde in den Jahren 1934 bis 1939 sterilisiert. 38 Zur Anwendung kam das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GeVeN), das am 1. Januar 1934 in Kraft getreten war, bereits von Beginn an. Dies läßt sich auch für das Christophsbad feststellen. Eine Fortsetzung dieser inhumanen Praxis ist, wie auch für das Christophsbad Göppingen gezeigt werden kann, noch bis in die Kriegsjahre hinein nachweisbar.

"(1) Wer erbkrank ist" - so hieß es in § 1 dieses Gesetzes -, "kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.

(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manischdepressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsuch, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.

(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet." 39

Die Sterilisierungen konnten ohne Zustimmung der Betroffenen vom Amtsarzt oder Anstaltsleiter beantragt werden. Ziel war es laut Kommentar zu diesem Gesetz, "den Volkskörper zu reinigen und krankhafte Erbanlagen allmählich auszumerzen". Der Antrag mußte bei einem der neu eingerichteten Erbgesundheitsgerichte gestellt werden, in Göppingen war dieses an das Amtsgericht angegliedert und mit einem Amtsrichter als Vorsitzenden sowie zwei Ärzten besetzt. Nach den Bestimmungen von § 12 des Gesetzes konnten Entscheidungen auch ohne Einwilligung der betroffenen Person durchgesetzt werden. Dazu führte das Gesetz aus: "(1) Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig." 40

In den Jahresberichten des Christophsbads werden Sterilisierungen regelmäßig erwähnt. Näher eingegangen werden soll hier nur auf den Untersuchungszeitraum 1939 bis 1941, in den auch die "Euthanasie"-Maßnahmen fielen. Begonnen hatten jedoch die Zwangssterilisierungen bereits mit dem Inkrafttreten des GeVeN 1934. Laut dem Jahresbericht 1939 war die Zahl der von den Ärzten des Christophsbads beantragten Sterilisierungen mit 27 - davon 15 genehmigt und vollzogen - geringer als in den Vorjahren. 41 Erläuternd heißt es dazu: "Die im hiesigen Krankenhaus von Dr. Pfeiffer ausgeführten Sterilisationen sind wie bisher immer ohne Komplikation verlaufen. Von ungünstigen Einwirkungen der bei unseren Kranken durchgeführten Sterilisation auf die Psyche der Kranken ist uns bis heute, also 6 Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, nicht das Geringste bekannt geworden. Die Dauer des gerichtlichen Verfahrens gibt zu irgendwelchen Beanstandungen keinen Anlaß mehr. In einigen seltenen Fällen wurden durch die von Seiten der Angehörigen eingelegte Berufung eine völlig unnötige und unzweckmäßige Verzögerung der Vornahme der Unfruchtbarmachung verursacht." 42

Im folgenden Jahr 1940 wurden 28 Sterilisationsanträge gestellt, 15 für Männer und 13 für Frauen in der Heilanstalt Christophsbad. Das Erbgesundheitsgericht in Göppingen genehmigte schließlich 18 Sterilisierungen, 12 bei Männern und 6 bei Frauen. Die Sterilisierungen wurden im Kreiskrankenhaus in Göppingen durchgeführt. Im Bericht wird dazu ergänzend ausgeführt: "Die Operationen verliefen sämtlich glatt und ohne die geringsten Komplikationen. Das Gerichtsverfahren wickelte sich immer glatt und rasch ab. Beschwerde gegen den Beschluß des Erbgesundheitgerichtes wurden nur ganz selten erhoben." 43

1941 schließlich wurden noch 15 Anträge, 11 für Frauen und 4 für Männer, gestellt. 13 Patienten wurden zwangssterilisiert. Über die Ursache des Rückgangs liest man im jährlichen Rechenschaftsbericht: "Die geringe Zahl von Sterilisationen hängt in erster Linie damit zusammen, daß mit Rücksicht auf die Kriegsverhältnisse Anträge auf Sterilisierung von uns nur in den dringendsten Fällen gestellt werden." 44

Jüdische Patienten

Die jüdischen Patienten in Württemberg wurden bereits sehr früh Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung. 45 Ende 1938 ging den Anstalten durch die staatlichen Gesundheitsämter ein Schreiben mit folgendem Wortlaut zu: "Auf Ersuchen des RMin.d.I. habe ich darauf hinzuweisen, daß der Gefahr einer Rasseschändung wirksam entgegengetreten werden muß. Juden müssen daher von kranken Deutschen oder artverwandten Blutes räumlich getrennt untergebracht werden. Soweit Juden, die nicht bettlägerig krank sind, in Kranken- usw. Anstalten verbleiben müssen, muß ihre Unterbringung und die Regelung ihrer Bewegung im Hause und Anstaltsgelände die Gefahr einer Rasseschändung mit Sicherheit ausschließen. Dies gilt insbesondere in Heil- und Pflegeanstalten und ganz besonders in Tuberkulosekrankenabteilungen." 46 Ein Runderlaß des Stuttgarter Innenministeriums vom 20. Mai 1939 ordnete die Zusammenlegung der jüdischen Patienten Württembergs in der Heilanstalt Zwiefalten an. 47 Etwa einen Monat später, am 24. Juni 1939, kündigte auch Obermedizinalrat Dr. Mauthe auf einer Tagung württembergischer Psychiater die schrittweise Verlegung jüdischer Patienten aus den staatlichen und privaten Heilanstalten nach Zwiefalten an. 48 Wie aus einem Bericht Mauthes an den Württembergischen Innenminister hervorgeht, waren auch im Christophsbad jüdische Patienten untergebracht: "Am 7. Juni 1939 habe ich zusammen mit Oberregierungsrat Kley die Heilanstalt Christophsbad Göppingen besichtigt. Wir haben sämtliche Krankenabteilungen unter Führung des Direktors Dr. Glatzel und der beiden Oberärzte Dr. John und Dr. Weitbrecht, sowie auch einige der Wirtschaftsbetriebe unter Führung des Betriebsführers Dr. Landerer begangen. .. . Pfleglinge jüdischer Rasse sind noch 3, nämlich 2 Mann und 1 Frauen (sic!) in der Anstalt. Es ist vorgesehen, diese in absehbarer Zeit nach Zwiefalten zu verlegen. Der eine männliche Pflegling ist Privatpatient 2. Klasse. Und es werden die Kosten von einem Verwandten in England regelmäßig bezahlt." 49 Mit größter Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, daß die jüdischen Patienten des Christophsbads tatsächlich in die Heilanstalt Zwiefalten zwischenverlegt und im Jahr 1940 in Grafeneck ermordet wurden. Gesichert ist jedoch, daß Ende 1939 die Zahl der jüdischen Patienten in Zwiefalten mit 20 ihren Höchststand erreichte. Nur zwei von ihnen sollten das Jahr 1940 überleben. 50 Die "Euthanasie"-Aktion stellte somit auch die erste systematische Ermordung jüdischer Menschen im nationalsozialistischen Deutschland dar. Bewußt wurden jüdische Patienten ungeachtet aller anderen Selektionskriterien wie Arbeitsleistung, Dauer des Anstaltsaufenthalts oder Krankheitsform in die Vernichtungsanstalten überführt, und dies anderthalb Jahre bevor der Holocaust, also die Ermordung der europäischen Juden, Gestalt annehmen sollte. Allein die Tatsache, daß Patienten einer angeblich jüdischen Rasse zugerechnet wurden, war ausschlaggebend für Diskriminierung und Ausgrenzung, schließlich Verlegung und Ermordung.

Der Beginn der "Euthanasie" in Württemberg

Ab September 1939 erfolgte, in einem von Leonardo Conti unterzeichneten Erlaß der Gesundheitsabteilung des RMdI an alle Landesregierungen, damit auch an die württembergische, die Erfassung sämtlicher Heil- und Pflegeanstalten, gleich welchen Trägers (staatlich, privat, konfessionell), "in denen Geisteskranke, Epileptiker und Schwachsinnige nicht nur vorübergehend verwahrt werden" 51. Dazu gehörte auch das Christophsbad Göppingen, das zu den Privatheilanstalten zählte. Nach der Erfassung der Anstalten, wurde durch einen Runderlaß des Reichsministeriums des Inneren vom 9. Oktober 1939 die Erfassung der Anstaltsinsassen eingeleitet. Dieser Erlaß, der auch dem Christophsbad zuging, umfaßte zwei Meldebogen und ein Merkblatt. Das Merkblatt legte die Kriterien für die zu meldenden Patienten fest: "Zu melden sind sämtliche Patienten, die 1. an nachstehenden Krankheiten leiden und in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u.ä.) zu beschäftigen sind: Schizophrenie, Epilepsie (wenn exogen, Kriegsbeschädigung oder andere Ursachen angeben), senile Erkrankungen, therapierefraktäre Paralyse und andere Lues-Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Encephalitis, Huntington und andere neurologische Endzustände; oder 2. sich seit mindenstens 5 Jahren dauernd in Anstalten befinden; oder 3. als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind; oder 4. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind unter Angabe von Rasse und Staatsangehörigkeit." 52

Der Meldebogen 2 bezog sich auf die Anstalten selbst. Größe, Zustand, Zahl der Betten, Bauart usw. wurden erhoben, um eine langfristige Planung der Anstaltspsychiatrie in Württemberg zu ermöglichen. 53 Ebenfalls noch im Jahr 1939 ging dem Christophsbad ein weiterer Runderlaß (siehe Abbildung Seite 20), diesmal aber des Württembergischen Innenministeriums, zu. Hierin wurde die Verlegung einer größeren Anzahl von Kranken in den Heil- und Pflegeanstalten aufgrund der - nicht näher bezeichneten - gegenwärtigen Lage als notwendig bezeichnet. Die Kranken sollten zusammen mit ihren Krankenakten in Sammeltransporten verlegt werden.

Runderlaß

Mit dem Runderlaß vom 23. November 1939 unterrichtete das Württembergische Innenministerium die staatlichen und privaten Heilanstalten über die geplante Verlegung von Patienten und deren organisatorische Durchführung.

Dr. Jonathan Schmid Dr. Jonathan Schmid war vom 12. Mai 1933 bis zum April 1945 Württembergischer Innen- und Justizminister.
Württembergische Innenministerium in Stuttgart

Das Württembergische Innenministerium in Stuttgart an der Ecke Karlstraße/Dorotheenstraße.

Wie aus dem Anschreiben zu obigen Erlaß hervorgeht, wies das Anstaltswesen in Württemberg zu Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre eine komplexe Struktur auf. Es existierte eine Vielzahl verschiedener Anstaltstypen, Anstaltsträger, Aufsichts- und Oberaufsichtsbehörden. Der wichtigste Anstaltstyp war die staatliche Heil- und Pflegeanstalt. Hierzu zählten die Anstalten in Weinsberg, Winnenden (Winnental), Weissenau, Schussenried und Zwiefalten. Diese unterstanden zusammen mit den Privatheilanstalten in Göppingen, Rottenmünster und Kennenburg bei Esslingen am Neckar direkt dem Württembergischen Innenministerium in Stuttgart. Allein in Württemberg waren 20 einzelne Anstalten von der "Euthanasie" betroffen. Um die Einordnung der Privatheilanstalt Christophsbad in Göppingen innerhalb dieses Systems zu verdeutlichen, sind die verschiedenen Anstaltstypen (siehe Tabelle Seite 23) aufgelistet und deren jeweilige Zahl der Opfer angegeben worden. Die Zahlen beziehen sich hierbei nur auf die in Grafeneck getöteten Patienten. Dazu muß bemerkt werden, daß die Zahlen nur als vorläufig anzusehen sind und trotz der scheinbaren Präzision Unschärfen aufweisen können. Sie sind deshalb nur als Annäherungswerte aufzufassen. Die Zahlenangaben stützen sich hauptsächlich auf das statistische Material des 1949 vor dem Schwurgericht Tübingen verhandelten Grafeneck-Prozesses, die Wochenberichte württembergischer Anstalten an das Innenministerium in Stuttgart sowie die Jahresberichte der einzelnen Anstalten. 54 Die ärztliche Leitung des Christophsbads Göppingen, die in den Händen von Dr. Fritz Glatzel lag, hat jedoch die im Oktober 1939 vom Reichsministerium des Inneren angeforderten Meldebogen nicht ausgefüllt. Zu diesem Vorgang, dem Nichtausfüllen der Meldebogen, sagte Dr. Glatzel am 9. Juli 1948 im Rahmen der sogenannten Grafeneck-Prozesses folgendes aus: "Im Oktober 1939 erhielt die Anstalt vom Reichsinnenministerium die Aufforderung, Meldebögen über die Patienten abzugeben. Der Inhalt der auf den Meldebögen gestellten Fragen kamen mir merkwürdig vor. Ich habe daher mit Schreiben vom 16. 10. 1939 u.a. um eine nähere Präzisierung der Fragen gebeten. Ich witterte hinter der Sache irgend etwas, mehr im Sinne eines wirtschaftlichen Schlags gegen die Privatheilanstalten, an die Möglichkeit einer Euthanasie dachte ich nur ganz entfernt. Die Antwort des Reichsinnenministeriums datierte vom 31. 10. 1939. Ich erteilte auch hierauf keine Antwort, füllte die Meldebögen nicht aus. Durch Erlaß des Württembergischen Innenministeriums vom 23. 11. 1939 wurden der Anstalt Verlegungen angekündigt. Ich dachte an finanzielle Gründe, zumal einige Tage später der Erlaß des Württembergischen Innenministeriums X 4875 vom 30. 11. 1939 eintraf, wonach der vom Staat für die Behandlung eines Staatspfleglings ausgeworfene Betrag auf RM 3,- herabgesetzt wurde." 55 Dr. Karl John, einer der beiden Oberärzte des Christophsbades, sagte nahezu gleichlautend aus, daß "das Ausfüllen der Meldebogen solange wie möglich verzögert (wurde). Über die Kranken der ersten drei Transporte sind sicherlich keine Meldebogen ausgefüllt worden." 56 Dieses Nichthandeln unterscheidet das Christophsbad in sehr positiver Weise von anderen Heil- und Pflegeanstalten in Württemberg.

Anstalten in Württemberg / Anzahl der Opfer in Grafeneck im Jahr 1940

A. Staatliche Heil- und Pflegeanstalten 2005 1. Weinsberg 422 2. Winnenden (Winnental) 356 3. Weissenau 558 4. Schussenried 317 5. Zwiefalten 352 B. Privatheilanstalten 322 1. Rottenmünster 178 2. Christophsbad/Göppingen 137 3. Kennenburg/Esslingen am Neckar 7 C. Landesfürsorgeanstalten 277 1. Markgröningen 120 2. Rabenhof/Ellwangen 30 3. Riedhof/Ulm 55 4. Rappertshofen/Reutlingen 72 D. Konfessionelle Anstalten 1229 Innere Mission/Landesverband Württemberg (evang.) 1. Pfingstweide/Tettnang 24 2. Stetten im Remstal 324 3. Gottlob-Weisser-Haus/Schwäbisch Hall 87 4. Mariaberg/Reutlingen 60 Caritas (kath.) 5. Liebenau 463 6. Heggbach/Biberach a.d. R. 173 7. Ingerkingen 72 8. Rosenharz/Ravensburg 26

Die Leiter der staatlichen Anstalten waren schon am 16. Februar 1940 von Dr. Eugen Stähle, dem Leiter des Württembergischen Gesundheitsdienstes im Innenministerium, von der anlaufenden "Euthanasie"-Aktion unterrichtet worden. Im März 1940 erschien dann Dr. Otto Mauthe vom Württenbergischen Innenministerium wegen des Nichtausfüllens der Meldebogen im Christophsbad. Bei dieser ,Visitation' wurden von Mauthe die ersten zu verlegenden Patienten selektiert. Mauthe berichtet über diesen Vorgang in einem Schreiben vom 19. März 1940: "Anläßlich der Abnahme der Pflegerprüfung in der Heilanstalt Christophsbad in Göppingen habe ich auch eine kurze Besichtigung der Anstalt durchgeführt und vor allem eine Liste der dort untergebrachten Staatspfleglinge, die ich mir erbat, zusammen mit dem Direktor Dr. Glatzel und den beiden Oberärzten Dr. John und Dr. Weitbrecht durchgesprochen. Die Anstalt ist immer sehr gut belegt, bei 525 Betten waren 526 Kranke aufgenommen, darunter 205 männliche und 175 weibliche Staatspfleglinge. In der Liste der Staatspfleglinge habe ich alle diejenigen mit blauem Winkel bezeichnet, die nicht, oder ganz wenig arbeiten, meist schon länger in der Anstalt sind und nicht aus der Umgebung von Göppingen stammen. Diese Staatspfleglinge, 71 Männer und 66 Frauen, eignen sich zur Verlegung in eine Staatskrankenanstalt, und es könnten zunächst einmal 40 Frauen zur Verlegung nach Weinsberg bestimmt werden." 57

Die ersten Abtransporte der auf der Liste markierten Göppinger Patienten erfolgten dann - wie bereits geschildert - ab April 1940. Angekündigt wurden die Verlegungen jeweils durch einen Erlaß des Württembergischen Innenministeriums, der folgenden Wortlaut hatte: "Unter Bezugnahme auf meinen in Abschrift beiliegenden Runderlaß Nr. X 4792 vom 23. November 1939 ordne ich die Verlegung der in der beigefügten Liste aufgeführten Kranken aus Ihrer Anstalt an. Die Abholung der Kranken erfolgt in meinem Auftrag durch die Gemeinnützige Kranken-Transport G.m.b.H., die sich mit Ihnen ins Benehmen setzen wird. Der Transport ist von der Abgabeanstalt vorzubereiten; unruhige Kranke sind mit entsprechenden Mitteln für einen mehrstündigen Transport vorzubehandeln. Die Kranken sind soweit möglich, in eigener Wäsche und Kleidung zu übergeben. Privateigentum kann als Handgepäck bis zum Gewicht von 10 Kg in ordentlicher Verpackung mitgegeben werden; der Rest ist von der Abgabeanstalt zu verwahren. Soweit keine Privatkleidung vorhanden ist, hat die Abgabeanstalt Wäsche und Kleidungsstücke leihweise zur Verfügung zu stellen. Für Rückgabe der leihweise mitgegebenen Kleidungs- und Wäschestücke in einwandfreiem Zustand ist die Gemeinnützige Kranken-Transport G.m.b.H. verantwortlich. Die Krankenakten sind dem Transportleiter auszuhändigen. Im Auftrag gez. Dr. Stähle." 58

Über den ersten Abtransport aus dem Christophsbad gibt der Erlaß des Innenministeriums Nr. X 1465 vom 1. April 1940 detailliert Auskunft. Darin wurde folgende Verfahrensweise festgelegt: "Die vorgesehene Verlegung von 40 weiblichen Staatspfleglingen von Göppingen nach Weinsberg kann nunmehr nach fernmündlicher Rücksprache von MinRat Dr. Stähle mit der Gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft bei der Heilanstalt Grafeneck erfolgen. . . . Die in der beifolgenden Liste aufgeführten 40 weiblichen Staatspfleglinge der Heilanstalt Christophsbad in Göppingen sind aus dieser in die Heilanstalt Weinsberg zu verlegen; sofern die eine oder andere dieser Pfleglinge aus schwerwiegenden Gründen nicht verlegt werden könnte, tritt an ihre Stelle eine der am Ende der Liste als Zusatz aufgeführten Pfleglinge in dieser Reihenfolge. Die Verlegung wird durch die Gemeinnützige Krankentransport-Gesellschaft durchgeführt, die den Zeitpunkt derselben den beiden Anstalten rechtzeitig bekanntgeben wird. Von der Heilanstalt Christophsbad sind die Krankheitsgeschichten und Personalpapiere der Pfleglinge der Heilanstalt Weinsberg zu übergeben, dieselben sind nach Einsichtnahme von dieser wieder zurückzugeben. Die Angehörigen und die Kostenträger sind durch die Anstalt Weinsberg von der Verlegung zu verständigen. Die erfolgte Verlegung ist mir von der Heilanstalt Weinsberg listenmäßig, von der Heilanstalt Christophsbad für jeden Pflegling auf Einzelblatt zu berichten." 59

Am 3. Juli 1940 reagierte die Direktion des Christophsbads auf diese Anordnung. In einem Schreiben an den Innenminister fragt Dr. Glatzel an, ob mit weiteren Verlegungen zu rechnen sei und wies auf mögliche negative wirtschaftliche Konsequenzen hin. Dr. Glatzel schrieb: "Die bisherige Evaquierung (sic!) Kranker aus der Heilanstalt hat uns bereits in große wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht, weitere Verlegung von Kranken würde von außerordentlich schwerwiegender Bedeutung für das Bestehen der Heilanstalt Christophsbad sein." 60

Nachdem bis Ende Juni 1940 in insgesamt drei Transporten bereits 190 Staatspfleglinge aus dem Christophsbad Göppingen verlegt worden waren, und das Innenministerium zwei weitere Verlegungstransporte mit noch einmal 150 Staatspfleglingen ankündigte, protestierte die Direktion des Christophsbads erneut beim Innenminister. Wiederum wurden ausschließlich wirtschaftliche Erwägungen vorgetragen. In einem sehr ausführlichen vierseitigen Schreiben der Direktion vom 9. August 1940 heißt es: "Laut Erlaß des Herrn Württ. Innenministers vom 21. Juni 1940 sollten in zwei Transporten je weitere 75 Staatspfleglinge, insgesamt also weitere 150 Staatspfleglinge in die staatliche Anstalt Winnental verlegt werden. Durch Erlaß von 15. 7. 1940 ist diese Verlegung ,wegen Mangel an Transportmitteln' vorerst auf Anfang August zurückgestellt worden. Mit Erlaß des Herrn Württ. Innenministers vom 10. 6. 1940 wurde uns sodann weiter mitgeteilt, daß Aufnahmen von Staatspfleglingen in unser Haus bis auf weiteres nicht mehr genehmigt werden können. . . . Nun betrug unser Patientenstand am 15. 4. 1940 - also unmittelbar vor der ersten Verlegung - 514 Kranke, darunter 377 Staatspfleglinge, der Patientenstand betrug am 6. 8. 1940 demgegenüber 355 Kranke, darunter 182 Staatspfleglinge. Würden die weiter angekündigten 150 Kranken noch in die Staatsanstalten verlegt, so würde damit unser Patientenstand von 514 Kranken am 15. 4. 1940 auf 205 Kranke am 6. 8. 1940 oder binnen 3 Monaten um über 300 Kranke absinken. Was das für einen auf große Krankenzahl eingestellten rein privaten Betrieb bedeutet, braucht kaum weiterer Darlegungen. Unsere Bitte ist deshalb, es möge von Abrufung der weiter angekündigten 150 Kranken zunächst Abstand genommen werden." 61

Verteilung der Staats- und Privatpfleglinge im Christophsbad 1939-1941

Datum Staatspfleglinge
(männl./weibl.)
Privatpfleglinge
(männl./weibl.)
Gesamt
31.12 1939 377 (202 m / 175 w) 134 (50 m / 84 w) 511
       
01.01.1940 377 (202 m / 175 w) 134 (50 m / 84 w) 511
31.12.1940 106 (46 m / 60 w) 216 (68 m /148 w) 322
       
01.01.1941 106 (46 m / 60 w) 216 (68 m /148 w) 322
31.12.1941 121 (51 m / 70 w) 239 (68 m / 171 w) 360

Eingaben im Jahr 1940

Die Heilanstalt Christophsbad machte in verschiedenen Eingaben im Jahr 1940 an das Württembergische Innenministerium deutlich, daß die Verlegung der Staatspfleglinge für die Privatheilanstalt wirtschaftlich negative Folgen hat.

Wie aus dem Schriftwechsel deutlich wird, wurde im Verlauf des Jahres 1940 der Handlungsspielraum der württembergischen Anstalten, insbesondere der staatlichen und der privaten, zunehmend eingeschränkt. Im Juni war ein weiterer Erlaß ergangen, der besagte, daß "bis auf weiteres die Aufnahme von Staatspfleglingen in die Privatheilanstalten Göppingen und Rottenmünster nicht genehmigt werden". Durch den sogenannten "Sperrerlaß" vom 9. September wurde schließlich verfügt, daß Patienten nicht ohne ausdrückliche Genehmigung des Innenministeriums entlassen werden durften. Außerdem wurde ab November 1940 das Verbot ausgesprochen, die Angehörigen der verlegten Patienten zu benachrichtigen.

Nicht gänzlich erfolglos blieben die Bemühungen der ärztlichen Leitung des Christophsbades, ebenso die des Inhabers und ,Betriebsführers' Dr. Werner Landerer, durch schriftliche Eingaben und persönliches Vorstelligwerden in Stuttgart die Verlegungen von Patienten zu verhindern. Anfang August hatte Dr. Landerer sowohl den einflußreichen Ministerialdirektor Dr. Dill im Innenministerium als auch Ministerialrat Dunz im Finanzministerium aufgesucht. Seine Reise war nicht umsonst. Von den 180 verbliebenen Staatspfleglingen wurden statt 150 nurmehr noch 75 in eine staatliche Anstalt weiterverlegt. Für den Abtransport wurde der 14. Oktober 1940 festgelegt.

Aber auch hiergegen protestierte die Direktion des Christophsbads in einer Eingabe an das Württembergische Innenministerium vom 30. September 1940. Man machte den Vorschlag, weitere 35 Patienten von der Verlegungsliste zu streichen und statt 75 die Zahl auf "40 männliche Kranke zu beschränken". 62 Der Göppinger Landrat schloß sich diesem Gesuch an, wie aus seinem Schreiben an den Württembergischen Innenminister vom 4. Oktober 1940 hervorgeht. 63 Ebenfalls verwandte sich in dieser Sache der Göppinger Oberbürgermeister Dr. Erich Pack beim Reichsstatthalter, Gauleiter und ebenfalls in Personalunion Reichsverteidigungskommissar Wilhelm Murr. Oberregierungsrat Dr. Ritter, der Berichterstatter des Reichsstatthalters, wandte sich daraufhin am 24. Oktober 1940 an den Göppinger Oberbürgermeister: "Betr.: Heilanstalt Christophsbad in Göppingen. Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Ich habe in obiger Angelegenheit mit Herrn Ministerialdirektor Dr. Dill Rücksprache genommen und dort erfahren, daß sich in allernächster Zeit eine Lösung finden lasse, um den Belangen der Heilanstalt Christophsbad in ausreichender Masse Rechnung tragen zu können. Es soll nämlich die Heilanstalt Kennenburg für andere Zwecke veräußert werden; dadurch könnten die dort befindlichen Staatspfleglinge der Heilanstalt Christophsbad zugewiesen werden. Die Verhandlungen in dieser Hinsicht schweben noch. Ich werde die Weiterbehandlung der Angelegenheit im Auge behalten." 64 Trotz all dieser Anstrengungen konnte die für den 14. Oktober angesetzte Verlegungsaktion weder verhindert noch die Zahl der zu verlegenden Patienten reduziert werden. Ob in der Folgezeit tatsächlich Patienten aus der aufgelösten Anstalt Kennenburg bei Esslingen ins Christophsbad gelangten, läßt sich anhand des überlieferten Quellenmaterials nicht mit Sicherheit sagen. Was jedoch feststeht, ist die Tatsache, daß acht Patienten aus Kennenburg in Grafeneck und Hadamar ermordet wurden. 65

Der Oberarzt des Christophsbads, Dr. John, suchte während dieses Konflikts mit den übergeordneten staatlichen Stellen persönlich Dr. Mauthe im Württembergischen Innenministerium auf. Nach eigenen Aussagen betonte er zum Schutz der Patienten deren Arbeitsfähigkeit und damit auch deren ,Lebenswert'. Vor der Spruchkammer Göppingen sagte John am 23. August 1946 dazu folgendes aus: "Ich übernahm es, bei allen möglichen industriellen Betrieben in Göppingen und Umgebung vorstellig zu werden, um Arbeitsmöglichkeiten für alle unsere Kranke zu bekommen und so den Beweis erbringen zu können, daß die Kranken nützliche Arbeit leisten, somit nicht lebensunwert seien. Ich verhandelte u.a. mit folgenden Firmen: In Göppingen mit Firma Gentner, Carl Deuschle, Märklin & Co, Schiettinger, Wlh. Wissner, C.G. Roth, Butz & Söhne, Netter & Eisig, Gebr. Klotz, Gebr. Boehringer, Wäschefabrik Gebr. Block, ferner in Faurndau mit Papierfabrik Beckh-Söhne, in Eislingen mit Papierfabrik Fleischer, in Salach mit Fabrikant Moritz u.a. und verschaffte damit unseren Kranken so ausgedehnte Arbeitsmöglichkeiten, daß es uns unschwer gelang, auch für die Schwerstkranken der Klinik irgend eine Betätigung zu finden. Am 10. Dezember erschien dann in der Klinik ein Herr Dr. Schmalenbach, der einen Ausweis des Herrn Reichsministers des Innern vorlegte und angab, er sei beauftragt, die Kranken unserer Klinik nachzuuntersuchen. Er sprach zunächst davon, daß er alle Kranke selbst ansehen wolle, war aber auf unseren Einspruch hin damit einverstanden, daß in Gegenwart des ärztlichen Direktors Dr. Glatzel, der beiden Oberärzte Dr. John und Dr. Weitbrecht . . . nach einer Patientenliste über das psychische Befinden und vor allem über die Arbeitsfähigkeit der Kranken berichtet werde. Er hatte sich aus der Liste 61 Kranke, die schon viele Jahre krank und in Anstaltsbehandlung sich befanden, ausgesucht, über die wir ihm berichteten. Es fiel ihm dann auf, daß wir diese 61 Patienten als sehr gute Arbeiter bezeichneten, worauf wir ihm erklärten, daß von den in der hiesigen Klinik in Behandlung stehenden Kranken 80% arbeiten und nur 20% akut krank und darum z. Zt. nicht arbeitsfähig seien. Herr Dr. Schmalenbach erklärte dann, ein Teil der besprochenen Kranken müsse trotzdem in eine Staatl. Heilanstalt überführt werden. Auf unsere Frage, ob diese Kranke dann auch tatsächlich in Staatl. Heilanstalten oder sofort an den Ort kämen, wo sie vernichtet würden, erklärte Herr Dr. Schmalenbach, er könne die Zusicherung geben, daß diese Kranken bestimmt zunächst einer staatlichen Heilanstalt zugeführt und dort erneut untersucht würden. Tatsächlich mußten wir dann am 27. 3. 1941 weitere 28 Kranke und zwar 7 Männer und 21 Frauen auf Anordnung des Württ. Innenministeriums an die staatl. Heilanstalt Weinsberg abgeben . . ." 66

Auf diese ,Auslese', die der "T4"-Gutachter aus Berlin, Dr. Schmalenbach, vornahm, spielt auch der Brief des ärztlichen Leiters Dr. Glatzel an, der mit dem Datum 21. Dezember 1940 an den Württembergischen Innenminister ging. Dr. Glatzel, der bereits am 30. August und am 30. September Eingaben an das Innenministerium gemacht hatte, argumentierte ähnlich wie zuvor Dr. John mit der Arbeitsfähigkeit seiner Patienten und stellte ihre Bedeutung zum einen für den wirtschaftlichen Fortbestand des Christophsbads selbst, zum anderen für "kriegswichtige Zwecke" heraus: "Beim Besuch des Herrn Dr. Schmalenbach - Berlin in unserer Anstalt am 10. d. M. wurde uns in Aussicht gestellt, daß in nächster Zeit voraussichtlich noch weitere Kranke unseres Hauses wegverlegt werden sollten. Wir erlauben uns nun an den Herrn Innenminister die ergebene Bitte zu richten, es möchte uns rechtzeitig die Gelegenheit gegeben werden, zu den einzelnen hier in Betracht kommenden Kranken hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit noch einmal Stellung zu nehmen. Zu dieser Bitte fühlen wir uns veranlaßt und berechtigt, weil die weniger als 50% arbeitsfähigen Kranken unseres Hauses sämtlich bei den bisherigen Verlegungen abgegeben wurden, Herr Dr. Schmalenbach nun aber gleichwohl eine größere Anzahl besonders weiblicher Kranker namhaft machte, die trotz ihrer über und zum Teil erheblich über 50% liegenden Arbeitsfähigkeit abgegeben werden müßten. Die fraglichen Kranken arbeiten zu einem Teil im Rahmen der industriellen Arbeitstherapie für gewisse Göppinger Industriebetriebe, die großen Wert auf die Inanspruchnahme der Krankenarbeit für ihre zum Teil kriegswichtigen Zwecke legen - aus den dem Ministerium bereits vorgelegten Briefen dieser Firmen geht dies eindeutig hervor. Zum anderen Teil sind diese Kranke im Arbeitsbetrieb unseres Hauses tätig, sei es, daß sie fehlende Arbeitskräfte auf den Abteilungen ersetzen oder solche Kräfte ergänzen, sei es, daß sie in den Wirtschaftsbetrieben des Hauses, vor allem in Landwirtschaft und Gärtnerei tätig sind. Als Arbeitskräfte sind sie auf diesen verschiedenen Posten heute schlechterdings unentbehrlich. Wir haben vor allem in der Landwirtschaft durch die bisherigen Abgaben schon Arbeitskräfte verloren, ohne sie ersetzen zu können. Wir sind erst recht nicht in der Lage, die nunmehr durch Herrn Dr. Schmalenbach zur Abgabe vorgemerkten arbeitsfähigen Kranken durch gesunde Kräfte zu ersetzen. Im Hinblick auf die Lage des Arbeitsmarktes will es uns geradezu unverantwortlich erscheinen, solche Hilfskräfte heute aus der Volksgemeinschaft auszuscheiden.

Wir wären daher dem Ministerium des Innern außerordentlich dankbar, wenn wir zu gegebener Zeit alle die Kranken unserer Anstalt, deren Lebenswert schon allein durch ihre Arbeitsleistung sich beweisen läßt und die wir für die eigene Wirtschaft zur Aufrechterhaltung unserer arbeitstherapeutischen Beziehungen zur Göppinger Industrie und damit zu volkswirtschaftlich und wehrwirtschaftlich wichtiger produktiver Mitarbeit nötig haben, benennen könnten, um durch Vermittlung des Ministeriums ihre Belassung in unserer Anstalt zu erreichen. Direktion gez. Dr. Glatzel." 67

All diese Bemühungen konnten nicht verhindern, daß insgesamt 297 Patienten aus dem Christophsbad abtransportiert und 168 dieser Pfleglinge in Grafeneck und Hadamar ermordet wurden.

Wie aus den Jahresberichten hervorgeht, stiegen die Belegungszahlen der Patienten Ende 1940, Anfang 1941 wieder an. Zum einen hatte dies mit der Umgestaltung des württembergischen Anstaltswesens zu tun, so mußten noch im November 1940 insgesamt 30 Kranke aus der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall aufgenommen werden. Im Verlauf des Jahres 1941 setzte sich dieser Trend fort, selbst die Zahl der sogenannten Staatspfleglinge vergrößerte sich wieder, erreichte aber nie mehr den Stand der Vorkriegszeit. Waren es 1940 noch 291, so stieg die Zahl im Jahr 1941 auf 383 Kranke an. In den Jahresberichten heißt es dazu erklärend: "Die Zahl der Aufnahmengesuche war dementsprechend im Berichtsjahre eine außerordentlich hohe. . . . Der Grund für diese hohe Ziffer liegt wohl in erster Linie darin, daß in den beiden letzten Jahren ein Teil von Heilanstalten und Privatkliniken im Süden des Reiches entweder aufgehoben oder teilweise zu militärischen Zwecken verwendet wurden. Außerdem spielt sicherlich die durch die Kriegsjahre bedingte psychische Belastung bei vielen, vor allem in höherem Lebensalter Stehenden eine gewisse auslösende Rolle bei der Erkrankung. . . . Aufnahmengesuche gingen ein 1371, abgelehnt wegen Platzmangel 970."

Die Schließung Grafenecks und das Ende der "Aktion T4"

Im Dezember 1940 wurde die Vernichtungsanstalt Grafeneck bei Münsingen geschlossen, das Personal nach Hadamar bei Limburg an der Lahn versetzt. Dort gingen die Krankenmorde mit unverminderter Brutalität und Intensität bis in den August 1941 hinein weiter.

Die Schließung Grafenecks Ende 1940 war wohl zum einen ein Einlenken auf anhaltende Proteste von seiten der Kirchen, von Angehörigen, aber auch aus Kreisen der NSDAP selbst, die an höchste Stellen des Reichs wie an den Reichsinnenminister, den Reichsjustizminister, indirekt auch zu Hitler gelangten und dazu führten, daß sich der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, einschaltete. Grafeneck wurde noch vor Jahreswende 1940/41 stillgelegt. Zum anderen scheinen aber auch organisatorische Gründe den Abbruch der "Aktion T4" in Südwestdeutschland bedingt zu haben. So scheint die Annahme begründet, daß Grafeneck als Tötungsanstalt ihr vorgegebenes ,Plansoll' erfüllt hatte. Hierfür sprechen sowohl die sinkenden Tötungszahlen zu Ende des Jahres 1940 als auch der beinahe zeitgleiche Abbruch der ,Aktion' in Brandenburg. Die Verlegung dieser beiden Tötungsanstalten nach Hadamar und Bernburg an der Saale bereitete die Erfassung neuer Regionen des Reiches durch die "Aktion T4" vor.

Hitler beendete diese im August 1941 durch einen mündlichen Befehl. Das Ende dieser sogenannten zentral gelenkten "Euthanasie"-Aktion, ihr sollte die dezentrale folgen, in der bis 1945 in einer Vielzahl von Anstalten - nicht jedoch im Christophsbad - ohne Unterbrechung weiter gemordet wurde, hatte vermutlich mehrere Gründe, nämlich das Erreichen des bereits 1939 festgelegten Zieles der Ermordung von 70 000 Insassen deutscher Heilanstalten (ca. 25% der Gesamtzahl); die verstärkte Ablehnung der Krankenmorde, die in der öffentlichen Predigt des katholischen Bischofs von Münster Graf von Galen kulminierte, und die zunehmende Konzentration des nationalsozialistischen Regimes auf den im Juni 1941 begonnenen Rußlandkrieg. Zu diesem Zweck mußte die Loyalität von Bevölkerung und Wehrmacht sichergestellt werden.

Zurück zum Christophsbad: Trotz der Tatsache, daß das Göppinger Christophsbad die größte Zahl seiner Staatspfleglinge abgeben mußte, sollte es als private Heilanstalt in Württemberg belassen werden. Rottenmünster hingegen, die zweite bedeutende Privatanstalt in Württemberg, war gänzlich aufgelöst und dem Reich bzw. der Wehrmacht übergeben worden. Der "Bericht über die Planungsfahrt Württemberg vom 21. 10. 1941 bis 12. 11. 1942" 68 bilanzierte die Anstalten und deren Bettenzahl, die nach Beendigung des Krieges "zur Belegung mit Geisteskranken zur Verfügung" stehen. Hierzu zählte eben auch die Privatheilanstalt Christophsbad Göppingen mit insgesamt 500 Betten. Von Württemberg zu "anderen Zwecken zur Verfügung gestellt wurden im Christophsbad 50 Betten für ein Kriegsgefangenenlager, ebenso 50 Betten für den Luftschutz. Die abschließende Bemerkung aus dem oben erwähnten Bericht, die über die weitere Zukunft des Christophsbades entscheiden sollte, lautete lapidar: "Verwendungszweck: Heilanstalt." 69

In Grafeneck, Gemeinde Gomadingen im Landkreis Reutlingen, wurde 1990 eine Gedenkstätte für die Opfer der "Euthanasie"-Aktion eingeweiht. Das Dach der offenen Kapelle tragen fünf Pfeiler, die bildlich an das fünfte Gebot "Du sollst nicht töten" erinnern. Die Schwelle, über die man die Gedenkstätte betritt, trägt die Namen der Orte, aus denen Menschen nach Grafeneck gebracht wurden.

Anhang
Stimmen gegen die "Euthanasie"-Aktion

Schreiben des Landesbischofs Dr. Theophil Wurm
Dr. Theophil Wurm (1868-1953) war von 1933 bis 1949 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. In verschiedenen Schreiben an Parteistellen und Reichsministerien wandte er sich deutlich gegen die Tötung geistig und psychisch Kranker im Rahmen des sogenannten "Euthanasie"-Programms. Mit dem im folgenden wiedergegebenen Brief vom 19. Juli 1940 an Reichsminister Frick erhob Landesbischof Wurm Einspruch gegen das Töten in Grafeneck. 70

Der Landesbischof
Evangelische Landeskirche in Württemberg
Stuttgart, 19. Juli 1940

An den Herrn
Reichsminister des Innern Dr. Frick
Berlin NW
Königsplatz 6

Sehr geehrter Herr Reichsminister!

Seit einigen Monaten werden auf Anordnung des Reichsverteidigungsrats geisteskranke, schwachsinnige oder epileptische Pfleglinge staatlicher und privater Heilanstalten in eine andere Anstalt verbracht. Die Angehörigen werden, auch wenn die Unterbringung des Pfleglings auf ihre Kosten erfolgt war, erst nachträglich von der Überführung benachrichtigt. Meist erhalten sie wenige Wochen später die Mitteilung, daß der betreffende Pflegling einer Krankheit erlegen sei und daß aus seuchenpolizeilichen Gründen die Einäscherung hätte sofort stattfinden müssen. Nach oberflächlichen Schätzungen dürften es schon mehrere hundert Anstaltspfleglinge allein aus Württemberg sein, die auf diese Weise den Tod gefunden haben, darunter auch Kriegsverletzte des Weltkriegs.

Durch zahlreiche Anfragen aus Stadt und Land und aus den verschiedensten Kreisen veranlaßt, halte ich es für meine Pflicht, die Reichsregierung darauf aufmerksam zu machen, daß in unserm kleinen Lande diese Sache ganz großes Aufsehen erregt. Zunächst einmal deshalb, weil sich eine der in Betracht kommenden Anstalten, das Schloß Grafeneck, in welches die Pfleglinge eingeliefert werden und wo ein Krematorium und ein Standesamt errichtet worden ist, in Württemberg befindet. Grafeneck ist Eigentum einer Anstalt der Inneren Mission, der Samariterstiftung, die an verschiedenen Orten körperlich und geistig Behinderte seit vielen Jahren aufnimmt und verpflegt. Sie wurde bei Kriegsausbruch auf Weisung des württ. Innenministeriums in das Kloster Reutte in Oberschwaben verlegt; Grafeneck wurde für die Aufnahme der aus anderen Anstalten herbeigeschafften Pfleglinge bestimmt. Das Schloß liegt auf einer Anhöhe der Schwäbischen Alb inmitten eines spärlich bewohnten Waldgebiets. Um so aufmerksamer verfolgt die Bevölkerung der Umgebung die Vorgänge, die sich dort abspielen. Die Krankentransporte, die auf dem kleinen Bahnhof Marbach ü. Müns. ausgeladen wurden, die Autobusse mit undurchsichtigen Fenstern, die die Kranken von entfernteren Bahnhöfen oder unmittelbar von den Anstalten bringen, der aus dem Krematorium aufsteigende Rauch, der auch auf größere Entfernungen wahrgenommen werden kann - dies alles erregt die Gemüter um so mehr, als niemand Zutritt zu dem Schloß bekommt. Der zweite Grund, warum gerade in Württemberg diese Dinge so schwer genommen werden, ist die Tatsache, daß Degenerationserscheinungen auch in geistig und sittlich hochstehenden Familien in unserem kleinen Lande nichts Seltenes sind. Darin machen sich teilweise die Folgen der mit der langen Abgeschlossenheit des Landes zusammenhängenden Verwandtenheiraten bemerkbar. Es ist deshalb eine verhältnismäßig große Zahl auch von Familien aus der Bildungsschicht durch die Maßnahmen zur Lebensvernichtung, die gegen Amstaltspfleglinge ergriffen werden, berührt. In diesen Kreisen wird schon die Art des Vorgehens scharf kritisiert, insbesondere wird auch von dabei vorkommenden Unwahrhaftigkeiten gesprochen. Jedermann ist überzeugt, daß die amtlich angegebenen Todesursachen willkürlich gewählt sind. Wenn vollends in der Todesanzeige bedauert wird, daß alle Bemühungen, das Leben des Patienten zu erhalten, vergeblich gewesen seien, so wird dies als Hohn empfunden. Vor allem aber ist es die Geheimnistuerei, die den Gedanken nahelegt, daß etwas vor sich geht, was mit Recht und Moral im Widerspruch steht und deshalb nicht wie andere notwendigen und scharfen Kriegsmaßnahmen von der Staatsführung in voller Öffentlichkeit gedeckt und vertreten werden kann. In den zahlreichen uns zugehenden schriftlichen und mündlichen Äußerungen wird - auch von einfachen Leuten - immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen. Es scheint auch bei der Auswahl der für die Lebensvernichtung bestimmten Pfleglinge jedenfalls im Anfang sehr wenig sorgfältig verfahren worden zu sein. Man hat sich nicht auf Verblödete beschränkt, sondern - insbesondere bei Epileptischen - auch arbeitsfähige Personen herausgeholt.

Das Wichtigste scheint mir aber, daß die Reichsregierung die grundsätzlichen Einwendungen, die in unserem Volk vom menschlichen und religiösen Standpunkt aus gegen dieses Vorgehen erhoben werden, würdigt und die vorhandene Mißstimmung nicht als eine Mißachtung nationaler und politischer Notwendigkeiten ansieht. Ich bitte mir deshalb zu gestatten, etwas eingehender das Problem der Lebensvernichtung zu behandeln. Ich war selbst früher im Nebenamt Seelsorger an einer staatlichen Heil- und Pflegeanstalt und bin deshalb nicht unbekannt mit den Verhältnissen und Problemen, um die es sich in diesem Zusammenhang handelt.

Selbstverständlich tritt jedem, der solche bedauernswerten Menschen vor sich hat, immer wieder der Gedanke nahe: Wäre es nicht besser, einem solchen Dasein ein Ende zu machen? Es hat für sich selbst keinen Wert mehr und bedeutet eine schwere Belastung für die Angehörigen. Als im Weltkrieg die Folgen der Blockade sich geltend machten und viele Pfleglinge an Tuberkulose oder anderen durch die mangelhafte Ernährung begünstigten Krankheiten starben - die Zahl der von mir zu haltenden Beerdigungen betrug normal etwa 20, stieg aber 1917 auf 50 -, da hat dies jedermann als eine natürliche Folge des Krieges und als eine Schickung Gottes hingenommen, und in vielen Fällen konnte man dankbar dafür sein, daß das Ende gekommen war. Etwas ganz anderes aber ist es, Maßnahmen zu ergreifen, die dieses Ende durch menschliche Einwirkung herbeiführen. In viel höherem Maße, als der Gesunde annimmt, sind sich viele Kranke ihres Daseins und ihrer Lage bewußt; oft, wenn man glaubt, sie hätten Worte, die zu ihnen gesprochen wurden, nicht gehört oder nicht verstanden, stellt sich nachträglich heraus, daß dies doch der Fall war und daß sie nur nicht in der Lage waren, so zu reagieren, wie der Gesunde reagiert hätte. Dafür, ob sie liebevoll oder rauh vom Arzt und vom Pfleger angefaßt werden, haben viele ein deutliches Gefühl. Man denke sich nun hinein in die Seelenverfassung eines Kranken, der aus allerlei Anzeichen den Schluß zieht, daß etwas mit ihm geschehen soll, gegen den sogar Gewalt angewendet wird, damit er bei dem Transport mitkommt - und man wird zu der Überzeugung kommen, daß dies nicht angeht, weil damit in Gottes Willen eingegriffen und die Menschenwürde verletzt wird. Die Entscheidung darüber, wann dem Leben eines leidenden Menschen ein Ende gesetzt wird, steht dem allmächtigen Gott zu, nach dessen unerforschlichem Ratschluß das eine Mal ein völlig gesunder und wertvoller Mensch vor der Zeit hinweggerafft wird und das andere Mal ein lebensuntüchtiger jahrzehntelang dahinsiecht. Ich kann gut verstehen, daß viele Menschen angesichts dieser und vieler anderer nicht mit der Vernunft zu erklärenden Tatsachen den Glauben an Gott verwerfen und statt seiner ein blindes Schicksal annehmen; aber das kann ich nicht verstehen, daß von einer Seite, die ausdrücklich den Atheismus verwirft und für die außerhalb des Christentums stehenden die Bezeichnung "gottgläubig" gewählt und eingeführt hat, eine Mißachtung des göttlichen Majestätsrecht gebilligt und durchgeführt wird, wie sie in dem Vorgehen gegen die Pfleglinge der Anstalt vorliegt. Soeben erst hat der Führer zum Gebet für die kämpfenden Truppen und zum demütigen Dank für den herrlichen Sieg über Frankreich aufgefordert; dürfen wir diesem Gott nicht auch das Leben unserer leidenden Volksgenossen anempfehlen, und ist es nicht auch sein Wille, daß wir, solange er sie am Leben läßt, uns ihrer annehmen?

Damit komme ich zu dem zweiten Anstoß, den das Empfinden unseres Volkes an den besprochenen Maßnahmen nimmt. Schon die vorchristliche Antike stellte den Grundsatz auf: res sacra miser, eine heilige Sache ist der Unglückliche. Das Christentum hat es sich von jeher zur Aufgabe gemacht, im Blick auf den, von dem es heißt: "Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen", sich der Kranken und Elenden anzunehmen. Gegenüber der Roheit eines primitiven Heidentums wurde der Mensch als Mensch und nicht als Tier behandelt. Die Fortschritte der Heilkunde wurden in den Anstalten der christlichen Liebestätigkeit auch für die geistig Erkrankten nutzbar gemacht. Wesentliche Fortschritte sind gerade auch von Spezialärzten in Anstalten der Inneren Mission wie in staatlichen Anstalten ausgegangen. Ich habe oft die Gewissenhaftigkeit und Geduld der Anstaltpsychiatrie bewundert, die ja gegenüber anderen Ärzten einen viel geringeren Prozentsatz an Heilerfolgen aufzuweisen haben und doch jeden Pflegling als ein ihnen anvertrautes Gut behandeln. Wie schwer muß es diesen Männern werden, entgegen der ganzen Tradition ihres Standes, Maßnahmen geschehen zu lassen und zu vertreten, die auf das Gegenteil der menschenfreundlichen Einstellung hinauslaufen, die neben der wissenschaftlichen Akribie die Ehre und Würde des Ärztestandes bildet!

Aber vielleicht erwidert man mir: Die Hundertausende körperlich und geistig Behinderter sind in volkswirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht für das deutsche Volk, das jetzt so große Aufgaben übernommen hat, eine zu große Belastung; die Angehörigen müssen diese Opfer bringen, so gut wie die Familien der Gefallenen noch viel schwerere Opfer gebracht haben! Darauf ist zu entgegnen: Daß ein Volk für seine Existanz kämpft und daß keiner zu gut ist, um in diesem Existenzkampf sein Leben einzusetzen, daß dürfen wir als Gottes Willen und Gebot ansehen; daß aber das Leben Schwacher und Wehrloser vernichtet wird, nicht weil sie eine Gefahr für uns sind, sondern weil wir dessen überdrüssig sind, sie zu ernähren und zu pflegen - das ist gegen Gottes Gebot. Wir loben doch auch unsere Soldaten, damit sie sich, wenn sie ihre Pflicht gegenüber dem bewaffneten Feind getan haben, der Unbewaffneten, vor allem der Frauen, Kinder, Verwundeten, Kranken barmherzig annehmen und nicht an die Last denken, die sie damit sich und dem Volk auferlegen. Es könnte sich ja auch der Gedankengang geltend machen: Wir haben keinen Grund, ein feindliches Volk, das uns so viel Böses angetan hat, wie die Franzosen, zu schonen. Aber dieser Gedankengang wäre eines Unmenschen würdig, nicht eines Deutschen.

Es ist gewiß ein großer Schmerz für Eltern, wenn unter ihren Kindern ein nicht vollsinniges ist; aber sie werden, solange Gott dieses Kind am Leben läßt, es ihre ganze Liebe spüren lassen; eine gegenteilige Handlungsweise, die natürlich auch vorkommt, wird durch das Volksempfinden verurteilt. Warum? Weil unser Volk in allen diesen Fragen durch die christliche Denkweise bestimmt wird. Und da die Partei ausdrücklich auf dem Boden eines "positiven Christentums" steht und unter diesem "positiven Christentum" wiederum ausdrücklich und vor allem die ethische Haltung des Christen, besonders auch die Nächstenliebe verstanden wissen will, so könnte sie eigentlich die Maßnahmen zur Lebensvernichtung nicht billigen. Wir verstehen deshalb gut, daß die Kreise der Partei, deren Stimme hauptsächlich im "Schwarzen Korps" zu hören ist, nicht bloß mit dem kirchlichen Christentum, sondern mit jedem Christentum aufräumen wollen, weil es eine Hemmung gegenüber solchen Maßnahmen bedeutet. Sie bestätigen damit die alte, oft gemachte Erfahrung, daß der Bruch mit dem christlichen Glaubensinhalt auch den Bruch mit der christlichen Ethik nach sich zieht. Aber immerhin - bis heute steht der Führer und die Partei auf dem Boden des positiven Christentums, das die Barmherzigkeit gegen leidende Volksgenossen und ihre menschenwürdige Behandlung als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Wird nun aber eine so ernste Sache wie die Fürsorge für hunderttausende leidende und pflegebedürftige Volksgenossen lediglich vom Gesichtspunkt des augenblicklichen Nutzens aus behandelt und im Sinne einer brutalen Ausrottung dieser Volksgenossen entschieden, dann ist damit der Schlußstrich unter eine verhängnisvolle Entwicklung gezogen und dem Christentum als einer das individuelle und das Gemeinschaftsleben des deutschen Volkes bestimmenden Lebensmacht endgültig der Abschied gegeben. Damit ist aber auch § 24 des Parteiprogrammes hinfällig geworden. Die Berufung darauf, daß nur das konfessionelle Christentum, nicht aber das Christentum als solches bekämpft werde, verfängt hier nicht; denn alle Konfessionen sind darin einig, daß der Mensch oder das Volk die ihm durch das Vorhandensein pflegebedürftiger Menschen auferlegte Last als von Gott auferlegt zu tragen hat und nicht durch Tötung dieses Menschen beseitigen darf. Ich kann nur mit Grausen daran denken, daß so, wie begonnen wurde, fortgefahren wird. Der etwaige Nutzen dieser Maßregel wird je länger je mehr aufgewogen werden durch den Schaden, den sie stiften werden. Wenn die Jugend sieht, daß dem Staat das Leben nicht mehr heilig ist, welche Folgerungen wird sie daraus für das Privatleben ziehen? Kann nicht jedes Roheitsverbrechen damit begründet werden, daß für den Betreffenden die Beseitigung eines anderen von Nutzen war? Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Gott läßt sich nicht spotten, er kann das, was wir auf der einen Seite als Vorteil gewonnen zu haben glauben, auf der anderen Seiten zum Schaden und Fluch werden lassen. Entweder erkennt auch der nationalsozialistische Staat die Grenzen an, die ihm von Gott gesetzt sind, oder er begünstigt einen Sittenverfall, der auch den Verfall des Staates nach sich ziehen würde.

Ich kann mir denken, Herr Minister, daß dieser Einspruch als unbequem empfunden wird. Ich wage auch kaum die Hoffnung auszusprechen, daß meine Stimme gehört werden wird. Wenn ich trotzdem diese Darlegungen gemacht habe, so tat ich es in erster Linie deshalb, weil die Angehörigen der betroffenen Volksgenossen von der Leitung einer Kirche einen solchen Schritt erwarten. Sodann bewegt mich allerdings auch der Gedanke, daß dieser Schritt vielleicht doch zu einer ernsten Nachprüfung und zum Verlassen dieses Weges Anlaß geben könnte.

Dixi et salvavi animam meam! 71

Heil Hitler
Ihr ergebener
gez. Wurm

Predigt von Bischof Clemens August Graf von Galen

Clemens August Graf von Galen (1878-1946) wurde im September 1933 Bischof von Münster. Am 3. August 1941 nutzte er seine Predigt, um öffentlich gegen die "Euthanasie" zu protestieren. Unerschrocken benannte er die ihm bekannt gewordenen Vorgänge als Mord. 72

(. ..) Andächtige Christen! In dem am 6. Juli d. J. in allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesenen gemeinsamen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 26. Juli 1941 heißt es u. a.: Gewiß gibt es nach der katholischen Sittenlehre positive Gebote, die nicht mehr verpflichten, wenn ihre Erfüllung mit allzu großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Es gibt aber auch heilige Gewissensverpflichtungen, von denen niemand befreien kann, die wir erfüllen müssen, koste es uns selbst das Leben: Nie, unter keinen Umständen darf der Mensch, außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten. Ich hatte schon am 6. Juli Veranlassung, diesen Worten des gemeinsamen Hirtenbriefes folgende Erläuterung hinzuzufügen: Seit einigen Monaten hören wir Berichte, daß aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, daß diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, daß man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe sogenanntes "lebensunwertes Leben" vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt.

Wie ich zuverlässig erfahren habe, werden jetzt auch in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinz Westfalen Listen aufgestellt von solchen Pfleglingen, die als sogenannte "unproduktive Volksgenossen" abtransportiert und in kurzer Zeit ums Leben gebracht werden sollen. Aus der Anstalt Marienthal bei Münster ist im Laufe dieser Woche der erste Transport abgegangen.

Deutsche Männer und Frauen! Noch hat Gesetzeskraft der § 211 des Reichsstrafgesetzbuches, der bestimmt: "Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft." Wohl um diejenigen, die jene armen Menschen, Angehörige unserer Familien, vorsätzlich töten, vor dieser gesetzlichen Bestrafung zu bewahren, werden die zur Tötung bestimmten Kranken aus der Heimat abtransporiert in eine entfernte Anstalt. Als Todesursache wird dann irgendeine Krankheit angegeben. Da die Leiche sofort verbrannt wird, können die Angehörigen und auch die Kriminalpolizei es hinterher nicht mehr feststellen, ob die Krankheit wirklich vorgelegen hat und welche Todesursache vorlag. Es ist mir aber versichert worden, daß man im Reichsministerium des Innern und auf der Dienststelle des Reichsärzteführers Dr. Conti gar kein Hehl daraus machte, daß tatsächlich schon eine große Zahl von Geisteskranken in Deutschland vorsätzlich getötet worden ist und in Zukunft getötet werden soll. Das STGB bestimmt in § 139: "Wer von dem Vorhaben .. . eines Verbrechens wider das Leben .. . glaubhafte Kenntnis erhält und es unterläßt, der Behörde oder dem Bedrohten hiervon zur rechten Zeit Anzeige zu machen, wird .. . bestraft." Als ich von dem Vorhaben erfuhr, Kranke aus Marienthal abzutransporieren, um sie zu töten, habe ich am 28. Juli bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Münster und bei dem Herrn Polizeipräsidenten in Münster Anzeige erstattet durch einen eingeschriebenen Brief mit folgendem Wortlaut: "Nach mir zugegangenen Nachrichten soll im Laufe dieser Woche (man spricht vom 31. Juli) eine große Anzahl Pfleglinge der Provinzialheilanstalt Marienthal bei Münster als sogenannte "unproduktive" Volksgenossen nach der Heilanstalt Eichberg überführt werden, um dann alsbald, wie es nach solchen Transporten aus anderen Heilanstalten nach allgemeiner Überzeugung geschehen ist, vorsätzlich getötet zu werden. Da ein derartiges Vorgehen nicht nur dem göttlichen und natürlichen Sittengesetz widerstreitet, sondern auch als Mord nach § 211 des STGB mit dem Tode zu bestrafen ist, erstatte ich gemäß § 139 des STGB pflichtgemäß Anzeige und bitte, die bedrohten Volksgenossen unverzüglich durch Vorgehen gegen die den Transport und die Ermordnung beabsichtigten Stellen zu schützen und mir von dem Veranlaßten Kenntnis zu geben." Nachricht über ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ist mir nicht zugegangen.

Ich hatte bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der die Anstalten unterstehen, der die Kranken zur Pflege und Heilung anvertraut sind, schriftlich ernstesten Einspruch erhoben. Es hat nichts genutzt. Und aus der Heilund Pflegeanstalt Warstein sind, wie ich höre, bereits 800 Personen abtransportiert. So müssen wir damit rechnen, daß die armen wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? Nicht weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so daß diesem nichts anderes übrig blieb, als daß er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewalt entgegentrat. Das sind Fälle, in denen neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindes im gerechten Krieg Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten ist. Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission "lebensunwert" geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den "unproduktiven Volksgenossen" gehören. Man urteilt: sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet. Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh? Nein, ich will den Vergleich nicht bis zum Ende führen -, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft. Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich hier ja nicht um Pferd und Kuh, deren einzige Bestimmung ist, dem Menschen zu dienen, für den Menschen Güter zu produzieren. Man mag sie zerschlagen, man mag sie schlachten, sobald sie diese Bestimmung nicht mehr erfüllen. Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern. Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den "unproduktiven" Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Menschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozeß ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren! Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, "unproduktive" Mitmenschen zu töten - und wenn es jetzt zunächst auch nur arme wehrlose Geisteskranke trifft -, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.

Dann braucht nur irgendein Geheimerlaß anzuordnen, daß das bei Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere "Unproduktive" auszudehnen ist, daß es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Altersinvaliden, bei den schwerkriegsverletzten Soldaten anzuwenden ist. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher. Irgendeine Kommission kann ihn auf die Liste der "Unproduktiven" setzen, die nach ihrem Urteil "lebensunwert" geworden sind. Und keine Polizei wird ihn schützen und kein Gericht seine Ermordung ahnden und den Mörder der verdienten Strafe übergeben. Wer kann dann noch Vertrauen haben zu seinem Amt? Vielleicht meldet er den Kranken als "unproduktiv" und erhält die Anweisung, ihn zu töten. Es ist nicht auszudenken, welche Verwilderung der Sitten, welche allgemeines Mißtrauen bis in die Familien hineingetragen wird, wenn diese furchtbare Lehre geduldet, angenommen und befolgt wird. Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volke, wenn das hl. Gottesgebot: "Du sollst nicht töten", das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott, unser Schöpfer, von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird.

Ich will euch ein Beispiel sagen von dem, was jetzt geschieht: In Marienthal war ein Mann von etwa 55 Jahren, ein Bauer aus einer Landgemeinde des Münsterlandes - ich könnte euch den Namen nennen -, der seit einigen Jahren unter Geistesstörungen leidet und den man daher der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Marienthal zur Pflege anvertraut hat. Er war nicht richtig geisteskrank, er konnte Besuche empfangen und freute sich immer, so oft seine Angehörigen kamen. Noch vor 14 Tagen hatte er Besuch von seiner Frau und von einem seiner Söhne, der als Soldat an der Front steht und Heimaturlaub hatte. Der Sohn hängt sehr an seinem Vater. So war der Abschied schwer; wer weiß, ob der Soldat wiederkommt, den Vater wiedersieht, denn er kann ja im Kampf für die Volksgenossen fallen. Der Sohn, der Soldat, wird den Vater wohl sicher auf Erden nicht wiedersehen, denn er ist seitdem auf die Liste der Unproduktiven gesetzt. Ein Verwandter, der den Vater in dieser Woche in Marienthal besuchen wollte, wurde abgewiesen mit der Auskunft, der Kranke sei auf Anordnung des Ministerrats für Landesverteidigung von hier abtransportiert. Wohin, könne nicht gesagt werden; den Angehörigen werde in einigen Tagen Nachricht gegeben werden. Wie wird diese Nachricht lauten? Wieder so, wie in anderen Fällen? Daß der Mensch gestorben sei, daß die Leiche verbrannt sei, daß die Asche gegen Entrichtung einer Gebühr abgeliefert werden könne? Dann wird der Soldat, der im Felde steht und sein Leben für die deutschen Volksgenossen einsetzt, den Vater hier auf Erden nicht wiedersehen, weil deutsche Volksgenossen in der Heimat ihn ums Leben gebracht haben. (...)

Quellen

Archive Christophsbad Göppingen
Altregistratur
Stadtarchiv Göppingen
Altregistratur des Hauptamts
Zentrum für Psychiatrie Weissenau
Altregistratur
Zentrum für Psychiatrie Zwiefalten
Altregistratur
Mariaberger Einrichtungen
Altregistratur
Hauptstaatsarchiv Stuttgart
E 151, K II; E 151, K VI; E 151/53; E 140
Staatsarchiv Sigmaringen
Wü 29/3, Nr. 1752-1759
Staatsarchiv Ludwigsburg
EL 902/8; E 191
Bundesarchiv Koblenz (inzwischen: Bundesarchiv
Berlin-Lichterfelde)
BA-R 95 I/6
Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg (inzwischen:
Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde)
BA-MA, H. 20, 463

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